Sind Ärzte, Polizei und Lehrer auf 16-jährige Missbrauchsopfer nicht vorbereitet?
Es sollte ein unbeschwertes Sommerfest werden für zwei Freundinnen, 16 und 17 Jahre alt, im August 2022. In einem Sportclub in Berlin-Zehlendorf waren die Schülerinnen aus Potsdam zu einer Party eingeladen. Und weil ihre Eltern wollten, dass die Mädchen sicher nach Hause kommen, bestellten sie einen „Uber“-Fahrer, bezahlten vorab über PayPal.
Um 2.24 Uhr stiegen die Teenager in den Toyota Prius ein, zu einem Fahrer, der schon seit eineinhalb Jahren für den globalen Fahrdienstleister arbeitete. Das ältere Mädchen verließ das Fahrzeug nach wenigen Minuten vor dem Haus ihrer Eltern. Die Jüngere blieb im Auto und wollte einfach in die eigenen, sicheren vier Wände ihrer Familie.
Doch die Fahrt verlief anders als erwartet. Ungefähr 100 Meter entfernt vom Haus ihrer Eltern stoppte der Fahrer plötzlich, stieg um auf die Rückbank des Autos und vergewaltigte die 16-Jährige. Danach gelang es dem Mädchen, sich zu befreien und ins Haus der Eltern zu entkommen.
Ihre Schwester traf sie im Flur, und sie bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Als die Mutter dazukam, erzählte das weinende Mädchen, was passiert war. Die Eltern verständigten die Polizei. Und damit begann ein Albtraum, der inzwischen seit über zwei Jahren andauert, und der besonders das Opfer, aber auch die ganze Familie, in einen Strudel aus Prozessen, Behördenversagen und immer wieder schlimmen Rückschlägen zieht. Anteilnahme gab es zunächst viel, doch dann stellte sich heraus, dass praktische Hilfe für Opfer und Familie von kaum einer Seite zu finden war.
Die Mutter der heute volljährigen Schülerin war bereit, unter einem Pseudonym die ganze Geschichte zu erzählen, die wir hier dokumentieren.
Christine M., wie geht es Ihrer Tochter und der ganzen Familie heute, zwei Jahre nach der schlimmen Tat?
Wir haben inzwischen einigermaßen unseren Alltag wieder. Aber es gibt täglich viele Situationen, die einen immer wieder an den Vorfall erinnern, nicht zuletzt, weil es ja in unserer Straße passierte und wir quasi jeden Tag am Tatort vorbeifahren müssen. Unsere Tochter musste sich mit ihrer Therapeutin regelrecht erarbeiten, ohne Panikattacken an dem Ort vorbeifahren zu können. Wenn so etwas Schlimmes passiert, betrifft das immer auch die ganze Familie und jeder leidet auf seine Weise.
Für mich persönlich ist es bis heute schwer zu akzeptieren, dass ich mein Kind nicht vor allen Gefahren schützen konnte. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke, auch wenn wir alle langsam besser damit umgehen können. Obwohl der Strafrechtsprozess gegen den Täter abgeschlossen ist, haben wir mit einer unerwartet hohen Anzahl an Konflikten mit Behörden wie Schule, Schulamt und Bildungsministerium zu tun, was extrem kräftezehrend, teilweise sogar unmenschlich ist und es uns auch schwer macht, die ganze Geschichte hinter uns zu lassen. Unsere Tochter ist dank regelmäßiger psychologischer Unterstützung inzwischen recht stabil.
Ihre Tochter war damals Schülerin, hatte einen großen Freundeskreis. Wie geht man mit einer solchen Situation um? Kommuniziert man das in der Familie, im Freundeskreis, bei den Lehrern?
Ein ganz schwieriges Thema: Oft ist der offensive Umgang mit einem Problem ein wichtiger Schritt zur Bewältigung. Das ist beim Thema Missbrauch nicht möglich. Es ist ein hochgradig schambelastetes Ereignis, was es den Betroffenen fast unmöglich macht, offen damit umzugehen. Genauso problematisch ist es für Außenstehende, die ins Vertrauen gezogen werden, sich dem Thema zuzuwenden. Das gilt für notwendig involvierte Pädagogen, Ärzte oder Polizeibeamte, aber sogar auch für enge Freunde. Sowohl unsere Tochter als auch wir haben langjährige Freundschaften verloren, weil der Kontakt nach der Tat vermutlich aus Überforderung mit uns gemieden wurde.
Da die Tat einen Tag vor Eintritt in die Oberstufe passierte, bin ich am ersten Schultag nach den Sommerferien in die Schule gegangen und habe die Schulleitung informiert, was passiert ist. Wir hatten uns darauf verständigt, dass alle Lehrer, die unsere Tochter unterrichten, informiert werden. Wir mussten aber sehr schnell feststellen, dass auch unter Pädagogen nicht jeder mit so einem schweren Thema umgehen kann.
Was haben Schule und Lehrer konkret unternommen, um Ihrer Tochter in dieser schwierigen Phase Rückhalt zu geben?
Unsere Tochter bekam einen sogenannten Nachteilsausgleich, also längere Zeit in den Klausuren, durfte einen besonderen Ruheraum nutzen oder ohne sich erklären zu müssen früher die Schule verlassen früher die Schule verlassen, wenn es ihr nicht gutging. Ihre schulischen Leistungen verschlechterten sich sehr schnell, da sie in den ersten Wochen kaum schlafen konnte, Flashbacks hatte und extrem geschwächt war. Hinzu kam, dass sie wusste, dass sie etwa ein halbes Jahr später vor Gericht aussagen muss und lange nicht geklärt war, ob sie dem Täter nochmals begegnen wird. Das war zusätzlich sehr belastend.Natürlich haben wir mit ihr besprochen, ob sie das Jahr lieber wiederholen möchte, aber das wollte sie auf keinen Fall. Sie hätte sich nochmals als Opfer gefühlt und wollte sich auch ihren Mitschülern gegenüber nicht erklären müssen.
Ich glaube, sie hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht, denn natürlich wurde sie von anderen angesprochen, warum sie so oft fehlt. Wir haben der Schule erklärt, dass für unsere Tochter die Option, das Jahr zu wiederholen, nicht in Frage kommt und wir sie bei ihrer Entscheidung unterstützen. Das Gleiche hätten wir uns auch von der Schule gewünscht. Leider gab es diese Hilfe kaum. Es wurden ihr wenig Möglichkeiten zum Ausgleich schlechter Noten gegeben, noch gab es je ein persönliches Gespräch mit ihr oder uns. E-Mails wurden gar nicht oder erst sehr spät beantwortet. Das ist wirklich entwürdigend in so einer Situation.
Erst nach mehr als zwei Semestern konnten wir bei der Schulleitung quasi ein Gespräch erzwingen. Hier wurde wieder große Betroffenheit bekundet. Unser Einwand, dass Betroffenheit nur im Zusammenhang mit realer Hilfe glaubhaft und nützlich ist, wurde lediglich „zur Kenntnis genommen“. Durch das Ignorieren zuerst unserer Hilferufe und dann der konkreten Aufforderungen zur Unterstützung wurde uns die Macht der Schule demonstriert, der wir bzw. unsere Tochter hilflos ausgeliefert waren.
Aber das Land Brandenburg hat doch im Schulgesetz für extreme Ausnahmefälle Möglichkeiten geschaffen, die den Ermessensspielraum von Schule und Lehrkräften erweitert.
Das stimmt. Aber dafür muss der Wille vorhanden sein, diese auch anzuwenden. Nebenbei bemerkt mussten wir diese Information selbst recherchieren. An der Schule wollte man von einer Regelung für Ausnahmefälle nichts gewusst haben. Wir haben eine Ausnahmeregelung für die Oberstufe erwirken können, dass sie zwar die Gesamtpunktzahl für das Abitur erreichen muss, aber die Anzahl der Ausfälle (unter 5 Punkte) außer Acht gelassen wird. Diese Regelung wurde unserer Tochter aber – kurz vorm Ziel – wieder entzogen. Also dann, als der Druck am höchsten war, sollte sie ohne Hilfe klarkommen. Und wieder wurden wir von niemanden rechtzeitig darauf hingewiesen, nicht von der Schule, nicht vom Schulamt. Obwohl sie die Gesamtpunktzahl von 300 Punkten längst erreicht hatte, scheiterte sie an der Anzahl der Ausfälle. Wir berufen uns auf den Paragrafen 35 der GOSTV (Erklärung siehe Kasten), der genau für derartige Fälle gedacht ist. Warum er hier nicht zur Anwendung kommen soll, dazu fehlt jegliche Begründung. Stattdessen stützt das Schulamt seinen abschlägigen Bescheid darauf, dass kein Einvernehmen mit dem Ministerium hergestellt werden konnte. Es geht auch hier nicht um unsere Tochter, jedenfalls taucht sie für uns völlig unerklärlich in der Begründung überhaupt nicht auf.
Über unseren Antrag, den wir mit juristischer Unterstützung gestellt haben, muss jetzt wohl leider ein Gericht entscheiden. Für uns ist das Verhalten nicht nachvollziehbar und geradezu unmenschlich. Letztendlich entscheiden Ministerium, Schulamt und Schule darüber, ob sie einem Opfer einer schweren Gewalttat helfen, damit es anschließend seinen Weg gehen kann. Oder, wie es momentan so entschieden wurde, dass ein junges Mädchen ihr Leben lang daran erinnert wird, ein Opfer zu sein, nicht zuletzt weil sie unverschuldet ihren Traumberuf nicht ergreifen kann, wofür sie ein Abitur bräuchte.
Kommen wir zur Tat zurück. Als spät in der Nacht Ihre Tochter erzählt hat, was passiert ist, haben Sie die Polizei verständigt. Was passierte dann?
Erstmal hatten wir Glück, dass unsere Tochter sich getraut hat, uns zu erzählen, was passiert ist. Viele Kinde und Jugendliche schämen sich so sehr, dass sie sich niemanden anvertrauen. Zunächst kamen eine Polizistin und ein Polizist zu uns nach Hause. Die Beamtin ist mit meiner Tochter und mir ins Wohnzimmer zur ersten Befragung. Die Fragen waren teilweise sehr intim. Ich hielt die ganze Zeit die Hand meiner Tochter und versuchte zu begreifen, was passiert ist. Anschließend mussten wir alle Kleidungsstücke in Säcke verpacken und sind dann hinter dem Polizeiwagen her zur Spurensicherung ins Ernst-von-Bergmann Klinikum nach Potsdam gefahren.
Nach der Polizei musste Ihre Tochter zur Untersuchung ins Krankenhaus. Wie verlief die Spurensicherung?
Unsere Tochter wurde kurz von einer Kinderärztin untersucht und musste wieder erzählen, was passiert ist. Das war dann schon das dritte Mal innerhalb kürzester Zeit, dass unsere Tochter die Tat schildern musste. Im Laufe der Nacht und der nächsten Tage sollte sich das noch viele Male wiederholen. Dann kam der Leitende Oberarzt und erklärte uns, dass er die Spurensicherung vornehmen wird. Wir waren entsetzt. Ich sagte ihm, dass unsere Tochter noch nie gynäkologisch untersucht wurde, und ich es jetzt ganz sicher nicht zulassen werde, dass sie von einem Mann untersucht wird. Daraufhin zuckte er mit den Schultern, erklärte, dass das nicht optimal wäre, aber er wäre jetzt nun mal der diensthabende Oberarzt. Ich habe ihn daraufhin vor die Tür gebeten, weil ich die Diskussion nicht vor unserer Tochter führen wollte. Mein Mann blieb bei ihr. Ich diskutierte im Vorraum mit dem Oberarzt und schlug vor, dass seine Assistenzärztin die Untersuchung machen könnte.
So wurde es schließlich gemacht, der Oberarzt hat sich bei uns allerdings nicht mehr blicken lassen oder uns erklärt, wie die Situation nun gelöst wird.
Die Spurensicherung zog sie ewig. Erst passte die SD-Karte nicht zur Kamera, dann schnitt die Nagelschere nicht. Das mag sich nach Kleinigkeiten anhören, in dieser Situation ist es kaum zu ertragen! Auch wurde leider vergessen, das Thema HIV-Prophylaxe anzusprechen, was eigentlich Standard ist. Das haben wir am nächsten Morgen selbst recherchiert und sind eigenständig ins Auguste-Viktoria-Krankenhaus nach Berlin gefahren, wo mit der körperlich sehr belastenden, aber wichtigen, Therapie begonnen wurde.
Ich habe mich einige Tage später bei der Klinikleitung im E-v-B über das Verhalten des Oberarztes beschwert. Mir wurde erklärt, dass man eben nicht garantieren könne, dass eine Frau für die Untersuchung zur Verfügung steht und dass sich der Oberarzt von mir so abgelehnt fühlte. Ja, das ist richtig, ich habe ihn abgelehnt, aber nicht als Mensch, sondern in dieser Situation als Mann.
Der Täter konnte noch in der Nacht gefasst werden und ein halbes Jahr später fand der Prozess statt. Wie haben Sie den erlebt?
Natürlich waren wir erstmal erleichtert, dass der Täter so schnell gefasst werden konnte. Ein türkischer Staatsbürger, der bereits wegen eines Verstoßes gegen das Aufenthaltsrecht verurteilt worden war. Er kam sofort in Untersuchungshaft. Knapp ein halbes Jahr nach der Tat war der Prozess am Amtsgericht Potsdam.
Wir haben über unseren Anwalt alles versucht, damit unsere Tochter per separater Videovernehmung und nicht im Gerichtssaal aussagen muss. Dazu sah man sich in Potsdam nicht in der Lage. In Berlin z.B. gibt es dafür einen speziell ausgestatteten Raum, was für die Opfer eine extreme psychische Erleichterung ist. Auf Antrag bekam unsere Tochter eine psychosoziale Prozessbegleiterin an die Seite, die sie vorher mental auf den Prozess vorbereiten konnte. Dennoch war es für unsere Tochter und auch für uns einer der schlimmsten Tage im Leben. Am Ende bekam der Täter drei Jahre. Viele sagten uns hinterher, „ein gutes Urteil“ in Deutschland. Das mag zwar sein, für uns fühlte es sich aber nicht so an. Denn unsere Tochter wird diese Tat ein Leben lang begleiten.
Welche Erkenntnis haben Sie aus den letzten zwei Jahren gewonnen?
Am meisten hat uns erschrocken, wie Menschen reagieren. Im privaten Umfeld ist das sehr schmerzlich, aber letztlich die eigene Entscheidung, sich von Freunden zu trennen. In anderen Bereichen geht das nicht. Das weitere Leben eines Opfers darf aber nicht davon abhängen, ob ein Lehrer, Arzt oder eine Ministeriums-Mitarbeiterin empathielos oder überfordert ist. Und natürlich sind Anlaufstellen für anonyme Spurensicherung wichtig, aber es muss zu Ende gedacht und gehandelt werden. Wenn ein weibliches Opfer von einem Mann untersucht werden muss, weil er gerade Dienst hat, entscheiden sich im schlimmsten Fall die Opfer vielleicht gegen eine Spurensichersicherung.
Die Schulen tragen eine große Verantwortung, weil hier die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Im Zweifelsfall hängt der Schulabschluss von einzelnen Lehrern ab, denen aber die Kompetenz für Schüler mit derart schwerem Trauma fehlt. Das darf nicht sein. Unsere Tochter hatte das Glück, dass wir als Eltern und ihre ganze Familie ihr geglaubt und sich für sie eingesetzt haben. Auch die Richterin hat ihr geglaubt. Bei den meisten Opfern kommen die Täter aber aus dem engen Freundes- oder Familienkreis. Ich mag mir gar nicht vorstellen, welche Hölle diese jungen Menschen durchleben, weil ihnen keiner glaubt und hilft.
Vielen Dank für das offene Gespräch.
Interview: Klaus Kelle