Teil 1: Der vergessene Freund

Werte Leserinnen und werte Leser, der POTSDAMER möchte Sie in den kommenden Ausgaben auf eine kleine Reise mitnehmen. Es ist eine Reise durch die Zeit, die Geschichte und die gesellschaftliche Entwicklung unserer Brandenburger Hauptstadt und deren Verhältnis zu unserem großen Nachbarn Russland.

Karl Friedrich Baptist macht sich auf die Suche nach Potsdams russischen Wurzeln und wird dabei u.a. unterstützt vom ehemaligen Stadtkonservator von Potsdam Andreas Kalesse.

Wir leben in einer sich ständig bewegenden und verändernden Welt, deren Gegenwart und Zukunft von der Geschichte der Nationen und ihrer Politik angetrieben werden. Dies lässt sich auch an Potsdam erkennen, das einst das Geschehen der politischen Weltbühne aus Europa mitgestaltete. Noch heute finden sich vielerorts Beweise dafür.
Die aktuelle politische Situation, mit dem leider oft angespannten Verhältnis zwischen Deutschland und Russland, lässt uns oft vergessen, dass wir – fast im Zentrum der Stadt gelegen – einen Hinweis darauf finden, dass es eine historische Partnerschaft gab, die von gegenseitigem Interesse und Freundschaft geprägt war: die Kolonie Alexandrowka.
Die Kolonie Alexandrowka und die dazugehörige russisch-orthodoxe Kirche sind mehr als nur Orte für einen netten Spaziergang an sonnigen Tagen. Begeben wir uns also auf die Suche nach den russischen Wurzeln Potsdams.

Weltkuturerbe Kolonie Alexandrowka. Ihre Blockhausfassade trügt. Foto: Christine Krüger

Ein Dorf der Erinnerung

Die Kolonie Alexandrowka und die Alexander-Newski-Kirche, die nur unweit der Kolonie selbst auf dem Kapellenberg liegt, ist wohl eine der markantesten und zugleich architektonisch ungewöhnlichsten Sehenswürdigkeiten der Stadt Potsdam. Man hat sich an den Anblick der dunklen und mit Intarsien versehenen, fast märchenhaft wirkenden Blockhäuser beim Vorbeifahren oder Vorbeilaufen gewöhnt. Dass es sich bei diesem historischen Ensemble um ein UNESCO-Weltkulturerbe handelt, ist für einige neu. Und wohl kaum einer hinterfragt, warum hier die anliegende Straßenbahnhaltestelle den Namen einer der größten russischen Autoren und Dichter trägt – Puschkinallee. Die Kolonie ist, geschichtlich betrachtet, nicht nur ein Wahrzeichen der russischen Architektur in Potsdam, sie ist auch der historische Beleg einer Freundschaft, die von Politik und Diplomatie lebte. Es war aber auch das Interesse an den Kulturen, das uns diese Bauwerke in die Stadt brachte.
Reisen wir nun zurück in das 19. Jahrhundert. In jener Zeit war das Verständnis für Staatsgebiete und Nationen zwar schon ausgeprägt, unterschied sich jedoch stark von dem, wie wir es heute kennen. Eine gezeichnete Landkarte konnte nur ungefähr bestimmen, wo ein Land begann und wo das andere endete. Landesgrenzen waren eher eine vage Annahme in den Köpfen der Staatsherren. Gebiete wurden aufgrund bestimmter Handlungen eines Staates zugeteilt. So konnte der Herrscher eines Landes Krieg führen, um seine Ländereien zu erweitern oder es auf diplomatischem Wege versuchen, seine Landesgrenzen zu erweitern oder zu stabilisieren. Letzteres bevorzugte man im damaligen Preußen. In der Verbindung zu Russland war in ebenjenen Jahren das Erschließen von Gebieten durch Eheschließungen zwischen Angehörigen der Fürsten-, Königs und Zarenhäuser das Mittel der Wahl.
Für viele von uns liegt unser alter Freund Russland, dessen Landesgrenzen das größte Flächenland der Erde beschreiben, einfach nur im Osten. Aber ist Russland auch ein Teil von Europa? Russland ist ein Teil von Europa und von Asien. Aufgrund seiner Größe lässt sich für viele dieses riesige Land gar nicht eindeutig zuordnen. Allgemein wurde Russland bis etwa zurzeit der französischen Revolution ausschließlich dem Norden Europas zugeteilt.

Im Inneren der Häuser finden sich typisch russische Gegenstände wie Ikonen.

Eine Verwandtschaft so groß wie Europa

Das preußische Königshaus der Familie Hohenzollern blickt auf eine lange familiäre Verbundenheit mit der russischen Romanow Dynastie zurück. Die Gesamtheit der Verwandtschaftsverhältnisse lässt sich nur schwer erfassen, sie unterstreicht aber, wie wichtig die Familie und die unterschiedlichen Häuser für die Entscheidungen der damals amtierenden Herrscher waren. Bereits die Mutter von Zar Alexander I., Sophie Dorothee von Württemberg, war die Großnichte von Friedrich dem Großen. Die königlichen Häuser waren nicht nur miteinander verwandt, sondern auch freundlich zueinander gesinnt. Kein Wunder also, dass ein Großteil der damaligen Politik die Pflege der innerfamiliären Beziehungen ausmachte.
Schon länger pflegten der russische Zar Alexander I. und der preußische König Friedrich Wilhelm III. um das Jahr 1800 herum eine gesunde Freundschaft unter Herrschern. Gegenseite Staatsbesuche, Geschenke und Verhandlungen führten zu einer lebhaften Zusammenarbeit. Preußen wurde 1806 in der Schlacht bei Jena und Auerstedt von Napoleon, der in Folge von zahlreichen Kriegen Europa in Atem hielt, vernichtend geschlagen und musste sich ihm unterwerfen. Dies war eine blamable Niederlage für Preußen – vor allem aber für den König selbst. Das Land befand sich nun politisch und moralisch am Ende. Reformen mussten entwickelt werden, um Preußen wieder zu neuer Stabilität zu verhelfen. Der einfachen Bevölkerung, deren Leben vor allem von körperlicher Arbeit geprägt war, wurde die Gewerbefreiheit zugesagt und was noch viel wichtiger war, die Leibeigenschaft wurde abgeschafft. Die Gesellschaft erfuhr also neue Freiheiten, die nicht nur der wirtschaftlichen Situation Preußens Hoffnung brachte. All das sollte dazu dienen, dem geschwächten und von Gebietsverlusten geplagten Land wieder auf die Beine zu helfen.
Zu jener Zeit fegte Napoleon mit seiner Armee ohne großen Widerstand durch Europa und brachte immer mehr Gebiete unter französische Hand. Die entscheidende Wende gelang Russland, das 1813 die französischen Soldaten auf russischem Boden besiegen konnte. Die von starken Truppenverlusten geplagte Armee Napoleons musste sich durch den harschen und erbarmungslosen russischen Winter wieder nach Westen drängen lassen. Preußen sah darin eine Chance, sich endlich von der napoleonischen Tyrannei befreien zu können und erneut zu erstarken. So schloss es sich militärisch Russland an, um den französischen Kaiser endgültig in die Flucht zu schlagen. Diese gemeinsamen Schlachten waren von großem Erfolg gekrönt und gingen als Befreiungskriege in die Geschichte ein. Preußen, welches zuvor lange unter der autokratischen Herrschaft Frankreichs an Einfluss und Größe verlor, konnte sich nun wieder politisch und wirtschaftlich erholen.

Im typisch russischen Ambiente darf die Samowar nicht fehlen.

Friedrich holt Russland nach Potsdam

Als der damalige König von Preußen und Kurfürst von Brandenburg 1819 sich zu Besuch im russischen Zarenreich in Sankt Petersburg befand, erblickte er etwas, das ihn in dessen Bann zog. Es war die etwa 25 km südwestlich von der Stadt entfernt liegende Schloss- und Parkanlage Pawlowsk, die heute noch dort zu finden ist. Diese Anlage muss Friedrich Wilhelm III. lange positiv im Gedächtnis geblieben sein und in ihm großes Interesse hervorgerufen haben, denn er ließ sich die Pläne zur Errichtung einer solchen Dorfanlage aushändigen und brachte sie mit nach Potsdam.
Als im Jahr 1825 Alexander I. starb, war dies für den preußischen König als Verbündeter ein großer Verlust. Zum Andenken und als Zeichen der Verbundenheit mit dem Zaren und zu Russland beauftragte er die Errichtung einer russischen Siedlung im preußischen Potsdam. Die Baupläne für das Vorhaben hatte er ja bereits. Nur ein Jahr nach Baubeginn 1826 war das Unterfangen fertiggestellt. Die Kolonie erhielt den Namen des verstorbenen Freundes. So gelang ein Stück Russlands nach Potsdam und wurde der russische Zar Alexander I. in der Anlage Alexandrowka namentlich in der Stadt verewigt. Im Jahr 1829 folgte auch die Fertigstellung der Alexander-Newski-Kirche, die seit jeher als eine Einheit mit der Anlage Alexandrowka betrachtet wird. Sie steht unweit der Alexandrowka-Anlage auf dem Kapellenberg, der früher Alexanderberg hieß. Der wohl bekannteste Architekt Preußens, Karl Friedrich Schinkel, der an der Planung und Erbauung vieler historischer Bauwerke Potsdams mitgewirkt hatte, war an der Planung und Erbauung der Kolonie nicht beteiligt. Jenem war schlichtweg diese Form des Baues nicht bekannt, schon gar nicht russische Blockhäuser und ähnliche Architektur. Es wird überliefert, dass er lediglich die Altarwand der Kirche angepasst habe.

Das Café Alexandrowka von innen. Fotos: kb

Preußische Fertigkeiten in der Baukunst setzten den russischen Stil um. So entstanden Fachwerkhäuser, deren Verkleidung die typisch russische Verkleidung von Blockhäusern erhielten. Das Areal der Anlage und seine Wege wurden in Form eines Hippodroms angelegt, das an die gemeinsame Siegesfeier in Paris erinnern soll. An der Feier zum Sieg in Paris im Jahr 1814 nahmen Alexander I. und Friedrich Wilhelm III. gemeinsam teil. Sie feierten zusammen die Siegesparade auf dem Hippodrom in Paris, dem Marsfeld der französischen Revolution, auf dem heute der Eiffelturm zu finden ist. Inmitten des Hippodroms der Alexandrowka-Anlage befinden sich zwei Hauptwege, die ein Andreaskreuz bilden. Es ist das Symbol eines russischen Schutzpatrons – dem heiligen Andreas. Dieses Symbol findet man heute wieder auf dem im Jahre 1998 wieder eingeführten russischen Staatsorden, der als höchste zivile Auszeichnung in Russland verliehen wird – ähnlich dem Bundesverdienstkreuz.
Die Kolonie Alexandrowka scheint ausreichend erforscht zu sein. Doch treten immer wieder kleine unbekannte Eckpfeiler der Geschichte zu Tage, die die Geschichte und die Geschichten ergänzen.
Erfahren Sie in der nächsten Ausgabe, wie sich das Leben in der Kolonie gestaltete und was es mit Sängern auf sich hat, die nicht sangen. Bis dahin und До свидания!

Karl Friedrich Baptist