Stadtverwaltung legt Zusagen anders aus als Ortsbeiräte
Abwanderungen, zerrissene Strukturen, zu hohe administrative Kosten. Dieser negativen Entwicklung sollte mit der Gemeindegebietsreform in Brandenburg entgegengewirkt werden. Auch Potsdam war davon betroffen.
Bis zum Jahr 2000 ging die Einwohnerzahl Potsdams stark zurück, und mit ihr die Steuereinnahmen. Anders war die Entwicklung in den umliegenden Gemeinden. Groß Glienicke, Neu Fahrland, Fahrland, Golm, Uetz-Paaren, Satzkorn und Marquardt, alle verzeichneten ein deutliches Wachstum. Da war die Eingemeindung dieser Ortsteile im Jahre 2003 für Potsdam die Chance, der eigenen schlechten Entwicklung entgegenzuwirken.
Wachstum nach Norden und Westen
2003 hatte Potsdam knapp 131.400 Einwohner und bekam durch die neuen Ortsteile etwa 12.000 Einwohner hinzu. Eine überschaubare Menge, auf den ersten Blick. Die hinzugekommene Fläche jedoch belief sich auf 8.000 Hektar. Potsdam selbst hatte zu diesem Zeitpunkt eine Gesamtfläche von 11.000 Hektar. Um fast 75 Prozent konnte Potsdam so in der Fläche zulegen und erhielt dadurch nicht nur attraktive Landschaften, sondern vor allem riesige Bauflächen.
Seit der Eingemeindung der oben genannten Ortsteile steigt die Einwohnerzahl Potsdam kontinuierlich. Aktuell zählt Potsdam knapp 183.000 Einwohner mit erstem Wohnsitz. Die 200.000-er Marke soll bald erreicht werden.
Nichtgehaltene Versprechen
So ganz einfach war die Eingemeindung allerdings nicht. Einige Ortsteile sahen darin die Gefahr, nicht mehr selbst Entscheidungen treffen zu können, andere befürchteten, dass Potsdam nur an den zusätzlichen Steuereinnahmen, den Bauflächen und der schönen Natur interessiert war. Befürchtungen, die heute für viele wahr geworden sind. „Viel rausholen, nichts investieren“, hört man von vielen enttäuschten Bürgerinnen und Bürger aus den Ortsteilen immer wieder.
Verträge anders ausgelegt
Aufgrund unterschiedlicher Meinungen zwischen Ortsbeirat und Stadtverwaltung haben in den letzten Monaten die Ortsvorsteherinnen aus Neu Fahrland, Dr. Carmen Klockow (Bürgerbündnis), und Golm, Kathleen Krause (SPD), mehrfach auf die Eingemeindungsverträge hingewiesen, in denen den Ortsbeiräten zugesichert wurde, dass Beschlüsse der Gremien in Angelegenheiten der Bauleitplanung nur im Einvernehmen mit dem jeweiligen Ortsbeirat zu erfolgen hätten. Beide beziehen sich auf folgenden Inhalt:
„Die Ziele des Flächennutzungsplanes der Gemeinde […] werden bei der weiteren Bauleitplanung im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben weiterverfolgt. Über die verbindliche Bauleitplanung im Ortsteil […] wird Einvernehmen mit dem Ortsbeirat hergestellt.“
Dazu nahm der Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) am 29.09.2021 Stellung:
„…Auch die Kommunalaufsicht kommt zu dem Ergebnis, dass die o.g. vertragliche Regelung kein Einvernehmensrecht im Sinne eines Zustimmungs- oder Vetorechts beinhaltet. Entsprechend der einem Vertrag vorrangigen gesetzlichen Vorschriften – hier § 46 BbgKVerf – stehen Ortsbeiräten lediglich Anhörungsrechte und ausschließlich die in der Kommunalverfassung und der Hauptsatzung vorgesehenen Entscheidungsrechte zu. Ein Zustimmungsrecht in Verfahren der Bauleitplanung ergibt sich aus den gesetzlichen Vorschriften jedoch nicht…“
Laut dem von Schubert zitierten Paragraphen 46 der Brandenburger Kommunalverfassung (BbgKVerf) hätte die Stadtverwaltung dem Ortsbeirat entsprechende Kompetenzen zusprechen können:
„(3) Die Hauptsatzung oder der Gebietsänderungsvertrag können bestimmen, dass der Ortsbeirat über folgende Angelegenheiten entscheidet:
1. Reihenfolge von Unterhaltung, Instandsetzung und Ausbau von Straßen, Wegen und Plätzen einschließlich der Nebenanlagen, deren Bedeutung nicht über den Ortsteil hinausgeht,
2. Pflege des Ortsbildes und Pflege und Ausgestaltung von öffentlichen Park- und Grünanlagen, Friedhöfen, Badestellen sowie Boots- und Kahnanlegestellen in dem Ortsteil und
3. Unterhaltung, Nutzung und Ausstattung der öffentlichen Einrichtungen, deren Bedeutung nicht über den Ortsteil hinausgeht.
…
(3a) In der Hauptsatzung können dem Ortsbeirat weitere Entscheidungsrechte über Angelegenheiten seines Gebietes eingeräumt werden.“
Ohnmächtige Ortsbeiräte
„Warum der Oberbürgermeister diese Option nicht zulässt, liegt doch auf der Hand“, sagt Dr. Wilhelm Wilderink, Rechtsanwalt und Sprecher der Bürgerinitiative „Rettet die Nedlitzzinsel“ (BI). „Er möchte die Ortsbeiräte handlungsunfähig machen“, ist Wilderink überzeugt.
„Wir kümmern uns als BI nicht nur um eine moderate Bebauung der Nedlitzinsel, sondern auch um eine Optimierung der Trassenführung im Hinblick auf den Ortskern bis hin zu den Auswirkungen der Krampnitz-Bebauung auf die Einwohner und das Ortsbild von Neu Fahrland, mit all seinen Konsequenzen. Vor allem die zu erwartenden Verkehrsprobleme stehen hierbei im Vordergrund“, betont Wilderink sein Engagement.
„Schon in der Präambel des Eingemeindungsvertrags wird darauf hingewiesen, dass die Ortsbeiräte auf Augenhöhe mit der Verwaltung entscheiden sollen“, so Wilderink.
In dieser heißt es: „…Die Parteien haben sich von dem Grundsatz leiten lassen, dass die Ortsentwicklung …, insbesondere im infrastrukturellen Bereich Priorität hat, dass der Gemeinde … eine möglichst große Selbständigkeit für die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft eingeräumt wird und das zwischen den Parteien ein fairer Interessenausgleich stattfindet.
Soweit in diesem Vertrag aufgrund des kurzen Verhandlungszeitraumes keine Regelungen getroffen worden sind, gehen die Parteien in den künftigen Abstimmungen von dieser Zielsetzung aus.“
„Von diesem ‚fairen Interessensausgleich‘ und der ‚möglichst großen Selbstständigkeit der Ortsbeiräte‘ möchte die Stadtverwaltung heute nichts mehr wissen. Die Ortsbeiräte haben keinerlei Macht mehr“, kritisiert Wilderink den Umgang der Stadtverwaltung mit den Anliegen der Ortsbeiräte. Nach seiner Auffassung müsse auch der Flächennutzungsplan weiterhin Bestand haben, konsequent weiterentwickelt und nicht ständig neu angepasst werden.
„Wenn die aktuelle Stellungnahme des Oberbürgermeisters in diesem Wortlaut in den Eingemeindungsverträgen gestanden hätte, wäre es nie zu einer Eingemeindung gekommen. Kein Wunder also, dass sich einige hintergangen fühlen, wenn es jetzt heißt, dass alles anders gemeint war und auch die Kommunalverfassung in der Zwischenzeit einige Male angepasst wurde.
Der zuständige Geschäftsbereich verhält sich nun wie ein trotziges Kind, das unbedingt seinen Willen durchsetzen muss“, sagt Wilderink. „Durch das jüngst durchgeführte Werkstattverfahren hofft die Verwaltung, die Mitglieder der SVV umstimmen und doch noch ihre eigenen Interessen durchsetzen zu können.“
Widerrechtliches Werkstattverfahren?
Ein klarer Beweis für die Ignoranz von Beschlüssen des Ortsbeirat Neu Fahrland und den mit der Bebauung der Nedlitzinsel in Zusammenhang stehenden Beschlüssen der Stadtverordnetenversammlung sieht Wilderink in dem 2021 durchgeführten Werkstattverfahren zu diesem Thema.
„Die Stadtverwaltung sucht eine Möglichkeit, sich über die Beschlüsse der SVV hinwegzusetzen und handelt damit rechtswidrig. Das Werkstattverfahren war unzulässig. Es fehlte ihm jegliche demokratische Legitimation, weil es fast ausschließlich aus Vertretern einer bestimmten Interessensgruppierung bestand, mit einem Übergewicht der Kapitalvertreter, wie der Deutsche Wohnen“, so Wilderink.
Die Stadtverwaltung sieht das anders und schreibt: „… Im Ergebnis eines konstruktiven und lösungsorientierten Prozesses verständigten sich die Mitglieder dieses Werkstattverfahrens mehrheitlich auf konkrete Planungsziele für die künftige Bebauung und Nutzung der Insel sowie auf ein städtebauliches Konzept…“
„Wir werden gegen diese Verfahrensweise und die wiederholten Falschdarstellungen der Stadt mit allen rechtlichen Mitteln vorgehen“, kündigt Wilderink an.
Gesprächsmöglichkeit für alle bei Kaffee und Kuchen
Um den Potsdamerinnen und Potsdamern mehr darüber erzählen können, wird Wilderink am 14.11.2021 ab 14:30 Uhr bei dem „SonntagsCafé“ im Landhaus Adlon sein. Das „SonntagsCafé“ wird zukünftig immer sonntags im Haus Adlon stattfinden und soll den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit geben, eine einstige Tradition wieder erleben zu dürfen. Im Charme der 1920er Jahre genießt man hier nicht nur Kaffee, Tee und Kuchen, sondern hat auch die Möglichkeit, mit anderen ins Gespräch zu kommen und sich über das breite Angebot des historischen Hauses, in dem einst die Familie Adlon gelebt hat, zu informieren. Der gesamte Ertrag des „SonntagsCafés“ wird gemeinnützigen Projekten in der Region zugutekommen.
Umfrage der Stadt
Aktuell läuft eine Umfrage zur Zusammenarbeit zwischen Stadtverwaltung und Ortsbeiräten, die die Stadtverwaltung in Auftrag gegeben hat. Bleibt zu hoffen, dass die Verwaltung den Ortsbeiräten die Mitwirkungsformen ermöglicht, die ihnen im Sinne der Eingemeindungsverträge zugestanden wurden.
sts