Linda Teuteberg (FDP) zu den Folgen einer Impfpflicht
Sie ist wohl eines der heißesten politischen Themen überhaupt: die Impfpflicht.
Kaum ein anderes Thema spaltet die Nation aktuell so stark. Der POTSDAMER sprach daher mit der in Potsdam lebenden FDP-Spitzenpolitikerin Linda Teuteberg darüber, was eine Impfpflicht für uns alle bedeuten würde.
Sehr geehrte Frau Teuteberg, noch vor dem 26. September 2021, dem Tag der Bundestagswahl, lehnten fast alle Politiker eine Impfpflicht kategorisch ab. Vor allem der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betonte immer wieder sein Versprechen, dass es keine Impflicht geben werde.
Mittlerweile haben sich sehr viele Politiker für eine Impfpflicht ausgesprochen. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hält diese für notwendig. Die FDP-Fraktion des Bundestages, der Sie angehören und die ja nun auch Regierungsverantwortung übernommen hat, sieht das anders und spricht sich deutlich gegen eine allgemeine Impfpflicht aus.
Können Sie uns kurz erklären, was hinter dem Begriff der „allgemeinen Impfpflicht“ zu verstehen ist?
Eine allgemeine Impfpflicht ist eine solche, die für alle Bürger gilt, für die die Ständige Impfkommission die Impfung gegen Corona empfiehlt und bei denen nicht zugleich eine medizinische Gegenindikation vorliegt.
Die meisten Befürworter einer allgemeinen Corona-Impfpflicht verstehen darunter eine Pflicht für alle ab 18.
Die in Krankenhäusern behandelten Corona-Patienten werden weniger statt mehr. Dennoch spricht der amtierende Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) von einer „Notwendigkeit zum Handeln“ und leitet diese von dem Dreiklang ab, dass es erforderlich, geeignet und maßvoll sei. Aus welchen Gründen sehen Sie die allgemeine Impfpflicht als kein geeignetes Mittel für den Kampf gegen Corona an?
Eine allgemeine Impfpflicht ist das falsche Instrument für ein wichtiges Anliegen. Sowohl Impfangst als auch Wut darüber sind schlechte Ratgeber. Die verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeit einer allgemeinen Corona-Impfpflicht als gravierender Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist meines Erachtens nicht gegeben. Die Impfung leistet einen wertvollen Beitrag, indem sie Geimpfte gut vor schweren Krankheitsverläufen und daraus resultierenden Todesfällen schützt und das Übertragungsrisiko verringert. Sich anstecken und das Virus übertragen können Geimpfte allerdings auch, so dass eine Impfpflicht nicht hinreichend unter dem Aspekt des Fremdschutzes zu rechtfertigen ist. Andere Maßnahmen wie Abstand, Maskentragen in Innenräumen und Testungen bleiben zunächst notwendig und wichtig. Zudem wird das eigentliche Ziel, die Impfquote zu erhöhen, nicht durch Buchstaben im Bundesgesetzblatt erreicht, sondern dadurch, dass Menschen sich real impfen lassen.
Wenn – was selbst viele Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht so sehen und ich nur unterstreichen kann – körperlicher Zwang oder Beugehaft als Sanktionen nicht in Frage kommen, werden sich hartnäckige Impfgegner auch weiterhin nicht impfen lassen. Andere wiederum, die Fragen und Sorgen oder das Thema bisher verdrängt haben und durch gute Beratungsangebote erreichbar wären, werden möglicherweise mit Trotz und Misstrauen auf eine Impfpflicht reagieren. Die zahlreichen unbeantworteten Fragen und ungelösten Probleme der praktischen Umsetzung und Durchsetzung einer allgemeinen Impfpflicht stellen zugleich ihre Wirksamkeit und Erforderlichkeit in Frage: Was in der Praxis nicht funktioniert, kann zur Zielerreichung nicht geeignet und erforderlich sein.
Selbst wenn man dies anders sehen sollte, scheitert die verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeit einer allgemeinen Corona-Impfpflicht für mich jedenfalls im dritten Teil der Verhältnismäßigkeitsprüfung, also an der Angemessenheit. Dem gewiss sehr tiefen Eingriff in das Recht körperlicher Unversehrtheit, das die grundsätzliche Erforderlichkeit der Einwilligung des Betroffenen vor medizinischen Eingriffen beinhaltet, steht ein ungewisser und allenfalls mittelbarer Nutzen gegenüber. Für mich gehört es zu den fundamentalen Freiheitsgrundrechten unserer Verfassung, dass erwachsene Menschen über medizinische Eingriffe an ihrem Körper selbst entscheiden.
Vergleiche mit anderen und früheren Impfpflichten wie bei Masern oder Pocken hinken im Hinblick auf die derzeit verfügbaren Corona-Impfstoffe: Die diesbezüglichen Impfpflichten sind unter Umständen durch eine dauerhafte und sterile Immunität sowie die reale Chance, die entsprechende Krankheit auszurotten, gerechtfertigt. Im Hinblick auf Corona ist hingegen unklar, ob es um eine Impfung einmal im Jahr, etwa zum Herbst, oder alle drei Monate gehen würde und welcher Schutz gegen künftige Virusmutanten möglich ist. All dies spricht dafür, dass die freiwillige Impfung ein wertvoller Beitrag zur Bewältigung der Pandemie und zum Schutz von Leben und Gesundheit für die meisten Erwachsenen ist. All dies spricht aber nicht dafür, die freie Entscheidung für oder gegen eine Corona-Impfung in Abrede zu stellen. Das ist eine Frage des Menschen- und Gesellschaftsbildes: Unserem Grundgesetz mit seinen Freiheitsgrundrechten liegt die Vorstellung zugrunde, dass es individuelle Freiheitsrechte gibt, die nicht ohne Weiteres dem Willen und Zugriff einer Mehrheitsentscheidung unterliegen. Selbst wenn Impfungen, die einen dauerhaften Schutz oder gar die Gewähr, eine Krankheit vollständig zu besiegen, bieten, ausnahmsweise eine Impfpflicht rechtfertigen könnten, gilt dies für die derzeitige Corona-Impfung nicht.
Darüber hinaus halte ich eine allgemeine Corona-Impfpflicht selbst dann, wenn sie noch verfassungsrechtlich zu rechtfertigen wäre, jedenfalls politisch nicht für klug. Das Misstrauen, das dadurch erzeugt und verstärkt würde, dass eine allgemeine Impfpflicht trotz gegenteiliger Zusagen verschiedener Spitzenpolitiker eingeführt wird, erzeugt gesellschaftliche Verwerfungen und Schäden für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt, die den begrenzten und ungewissen Nutzen einer gesetzlichen Pflicht bei Weitem übersteigen. Meine Sorge ist, dass das entsprechende Misstrauen auch auf andere Themen übertragen wird und sich gegen unseren demokratischen Rechtsstaat insgesamt richtet.
Vielmehr müssen alle Möglichkeiten der Information und Beratung und möglichst niedrigschwelliger Impfangebote ausgeschöpft und im Zweifel die Entscheidung von Bürgerinnen und Bürgern für oder gegen eine Impfung akzeptiert werden.
Die Corona-Krise belastet nun bereits seit fast zwei Jahren die Gesellschaft in einem kaum dagewesenen Maße. In dieser Zeit zeigte sich die Regierung nicht imstande, einer erneuten Welle effizient entgegenzuwirken. Stattdessen wurden viele Maßnahmen beschlossen und Versprechen gegeben, die heute weder Wirkung noch Gültigkeit haben. Zusätzlich erfahren wir, dass die kommunizierten Corona-Fall- und Inzidenzzahlen in vielen Bundesländern seit Monaten falsch waren bzw. sind. Auf welcher wissenschaftlichen Erkenntnis und medizinischen Notwendigkeit soll nun eine Entscheidung für oder gegen eine Impfpflicht basieren?
Statt Politik mit Zahlen zu machen, gilt es, Entscheidungen aufgrund zuverlässiger und aktueller Zahlen zu machen. Hier ist noch viel zu tun und zu verbessern. Maßnahmen, die in Grundrechte der Bürger eingreifen, bedürfen zwingend einer tragfähigen Begründung und müssen regelmäßig mit Blick auf neue Erkenntnisse überprüft und angepasst werden. Dazu gehört auch, die Maßstäbe für Maßnahmen an neue Erkenntnisse anzupassen. Aussagekräftiger als die lange herangezogenen Inzidenzen sind inzwischen beispielsweise die Hospitalisierungsraten und Auslastungen der Intensivstationen. Relevant ist zudem, ob ein Patient wegen Corona stationär behandelt wird oder wegen einer anderen Diagnose, eine Coronainfektion jedoch hinzukommt. Letzteres ist keineswegs zu verharmlosen, macht aber einen Unterschied für die Schlussfolgerungen und verantwortungsvolle Entscheidungen.
Viele derer, die sich gegen eine allgemeine Impfpflicht aussprechen, werden wie die, die sich gegen eine Impfung entschieden haben, in die Ecke der Rechtsradikalen, der Wutbürger, Corona-Leugner und Querdenker gestellt. Die „Spaziergänge“, die zurzeit deutschlandweit stattfinden und an denen viele hunderttausend Menschen teilnehmen, um gegen die Impfpflicht zu demonstrieren, zeichnen da ein anderes Bild. Wie stehen Sie zu den „Spaziergang-Demonstrationen“ aus demokratischer Sicht?
Ich pauschalisiere nicht, sondern beurteile jeden Menschen nach seinen tatsächlichen Äußerungen und Verhaltensweisen und erwarte auch von anderen, nicht in eine Schublade gesteckt zu werden. Das Recht, sich friedlich zu versammeln, gilt für alle Bürger. Die Pflicht, sich dabei an Regeln zu halten allerdings auch.
Das Recht, seine Meinung auch durch und auf Versammlungen kundzutun, ist aus guten Gründen ein hohes Gut in unserer Verfassung. Abstand zu halten empfiehlt sich dabei im physischen Sinne zum Schutz der Gesundheit aller Teilnehmer und im übertragenen Sinne im Hinblick auf Verschwörungserzählungen, verfassungsfeindliche Bestrebungen u.ä.
In Deutschland ist zu beobachten, dass es immer mehr eine Spaltung zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern gibt. Diese Spaltung ist zum Teil so stark, dass sie Freundschaften und Familien entzweien. Wie kann man dieser Entwicklung entgegenwirken?
Diese Entwicklung beunruhigt mich sehr. Wir brauchen mehr Respekt für andere Meinungen und Sichtweisen und die Bereitschaft zuzuhören. Wir sollten uns immer wieder bewusst machen: Gegner und Zumutung in dieser Pandemie ist das Virus und weder unsere Mitmenschen noch unsere politischen und staatlichen Institutionen. Wichtig ist, dass Familien, Freunde, Kollegen und Bürgerinnen und Bürger miteinander sprechen und auch reflektieren, dass wir gemeinsam diese Situation bewältigen und bestehen müssen. Realitäten zu verharmlosen oder zu leugnen und für Schwierigkeiten Sündenböcke zu suchen – seien es andere Menschen oder Gruppen oder unser politisches System – hilft nicht nur nicht weiter, sondern führt zu immer größeren Problemen. Es wird uns umso besser gelingen, je mehr wir darauf verzichten, alles und rigoros moralisch zu beurteilen und je mehr wir unseren eigenen Teil der Verantwortung für uns und unsere Mitmenschen wahrnehmen.
Eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen und Institutionen (Pflegeheime, Krankenhäuser u.ä.) soll bereits im März dieses Jahres umgesetzt werden. Zeitgleich werden die Impfwirkung und der Genesenenstatus immer weiter verkürzt, so dass Menschen, die vor sechs Monaten doppelt geimpft wurden oder als genesen galten, mittlerweile als ungeimpft gelten. Kann man im Rahmen der Pandemiebekämpfung überhaupt von einer Impfung im klassischen Sinn sprechen, wenn die Wirkung nur von sehr kurzer Dauer ist und diese nur gegen eine bestimmte Virus-Mutante gilt?
Es handelt sich um eine Impfung und zugleich um eine dynamische Situation. Deshalb gilt es, ehrlich und sachlich damit umzugehen, was wir wissen und was wir nicht wissen. Die Impfung wirkt durchaus nicht nur gegen eine einzelne Mutante.
Geimpfte sind nachweislich auch gegen neue Formen des Virus geschützt, wenn auch nicht dauerhaft und nicht in gleicher Intensität. Vor einem schweren Krankheitsverlauf, Langzeitschäden und Tod geschützt zu sein, ist ein großer Nutzen der Impfung für die allermeisten Menschen.
Nur in Schwarz-Weiß und Alles-Oder-Nichts-Kategorien zu denken, ist nicht vernünftig. Unterschiede zu manch anderen bisherigen Impfungen gibt es, und deswegen ist eine allgemeine Impfpflicht verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen.
Die Impfstoffe werden allerdings weiterentwickelt, was wir z.B. auch von Grippeimpfstoffen kennen. Dass wir in so kurzer Zeit einen wirksamen Impfstoff erhalten haben, ist eine große Errungenschaft. Aus guten Gründen ist die Entscheidung über medizinische Eingriffe gleichwohl regelmäßig in erster Linie eine höchstpersönliche.
Sie haben viele Themen angesprochen, die bei einer Einführung der allgemeinen Impflicht problematisch wären. Wie zum Beispiel:
• Wäre sie auch für Jüngere verhältnismäßig, die nur selten auf den Intensivstationen landen?
• Wie häufig müsste man sich impfen lassen? Und
egal wann, oder immer im Herbst?
• Mit welchem Impfstoff, bei welcher aktuell kursierenden Variante?
Welche Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht für den Kampf gegen Corona zurzeit geeignet?
Wir benötigen freiwillige Impfungen nach dem jeweiligen Erkenntnisstand der Medizin, sinnvolle Teststrategien, gezielte Entwicklung und Einsatz entsprechender Therapien und Medikamente und zunehmend Öffnungsperspektiven zur Überwindung der Pandemie und ihrer Folgen. Wenn die Pandemie zur Endemie wird – worauf die Entwicklung hindeutet, was aber keineswegs sicher ist – müssen konsequent auch die pandemiebezogenen Maßnahmen beendet werden.
Das individuelle und gesellschaftliche Leben darf nur so wenig wie möglich und so viel wie unbedingt nötig eingeschränkt werden. Maßnahmen müssen begründet sein, sie sind kein Selbstzweck und müssen enden, wenn ihre Rechtfertigung entfällt.
Sehen Sie im Deutschen Bundestag eine Mehrheit für die Impfpflicht oder glauben Sie, die Mehrheit der Parlamentarier von Ihrem eingebrachten Vorschlag, gegen die Impfpflicht zu stimmen, überzeugen zu können?
Ich habe Respekt vor allen Abgeordneten, die sich diese Entscheidung nicht leicht machen und eine sehr ernsthafte und gründliche Abwägung vornehmen. Mit unserem Gruppenantrag laden wir Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag ein, für die freiwillige Impfung und die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts über die eigene körperliche Unversehrtheit einzutreten. Dafür gilt es jetzt zu werben. Spekulationen und Prognosen helfen dabei nicht. Jede und jeder Abgeordnete muss ihr bzw. sein Gewissen befragen und verantwortlich entscheiden. Jedes Gespräch und jede Debatte, die zum Nachdenken anregen, sind ein Beitrag dazu. Mein Bestreben und Anspruch ist, auch eine Herausforderung wie diese Pandemie mit den Mitteln und im Geiste unserer Verfassung zu bewältigen: als offene Gesellschaft, liberale Demokratie und freiheitlicher Rechtsstaat.
Das Gespräch mit Linda Teuteberg führte Steve Schulz