Warum „Russenfreund“ kein Schimpfwort ist
In Potsdam und wahrscheinlich in ganz Brandenburg kennt ihn jeder, Matthias Platzeck. Als Brandenburgischer Umweltminister, als Potsdamer Oberbürgermeister oder als Brandenburgs Ministerpräsident hinterließ Matthias Platzeck beeindruckende Ergebnisse.
Vor sechs Jahren übernahm er den Vorstandsvorsitz des Deutsch-Russischen Forums e.V., dessen Ziel es ist, mit seinen Mitgliedern aus Wirtschaft und Gesellschaft durch Dialoge die Verbindungen zwischen deutschen und russischen Bürger*innen zu fördern, auszubauen und zu festigen. Heute sagte er: „Das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen gleicht einem Scherbenhaufen… Russland ist wieder zum Feindbild geworden.“
Matthias Platzeck, als Ostdeutscher mit den Russen und Ihrer Kultur von Kindheit an vertraut, engagiert sich seit vielen Jahren für einen Dialog auf Augenhöhe und sieht dabei vor allem Deutschland in der Pflicht. „Wir sollten Russland endlich als Partner akzeptieren und auch seine Interessen ernst nehmen. Für diesen Perspektivwechsel muss man längst nicht mit allem einverstanden sein, was in Moskau passiert … Für eine neue Ostpolitik … ist es nie zu spät.“
Am 16. März dieses Jahres erschien Platzecks Buch mit dem Titel „Wir brauchen eine neue Ostpolitik“ und dem Untertitel „Russland als Partner“.
Im Kern geht es Platzeck darum, durch den Dialog mit Russland ein stabiles und vor allem sicheres Europa zu formen. Dabei befürwortet er die „Politik der kleinen Schritte“ sowie einen „Wandel durch Annäherung“ und beruft sich damit auf die erfolgreiche Ostpolitik von Willy Brandt in den 1960er und gemeinsam mit Egon Bahr in den 1970er Jahren. Platzeck plädiert dafür, Themen, die nicht sofort gelöst werden können, wie zum Beispiel die Annexion der Krim, auch einmal, ohne den Zustand anzuerkennen, temporär zur Seite zu stellen, um sich zunächst auf die gemeinsamen Interessen zu konzentrieren, denn davon gäbe es laut Platzeck zwischen Deutschland und Russland eine ganze Menge.
Platzeck der Russenfreund
Nicht überall erntet Platzeck mit dem Aufruf, sich Russland wieder zu nähern, Applaus. Doch der von manchen abwertend als „Russlandfreund“ oder „Russlandversteher“ bezeichnete Platzeck rückt deswegen nicht von seiner Überzeugung ab. Ganz im Gegenteil „Diese Bezeichnungen zeigen ganz deutlich, wie wichtig es ist, mit Vorurteilen aufzuräumen und damit zu beginnen, sich auf Augenhöhe zu begegnen, um sich auf seine gemeinsamen Interessen zu besinnen. Das Buch ist also vielleicht genau zur richtigen Zeit gekommen“, kontert Platzeck mit einem Schmunzeln.
In seinem Buch umreißt er die Geschichte Europas und Russlands, insbesondere der Nachkriegszeit. Resümiert kritisch den Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands, erklärt, wie es dazu kam, dass Russland seinen Weltmachtstatus verlor, warum die USA und Europa darauf falsch reagierten und wie Russland unter Putin wieder an Stabilität und Selbstbewusstsein gewann.
Der POTSDAMER sprach mit Matthias Platzeck über seine Beweggründe, dieses Buch zu schreiben und der Notwendigkeit, das Gespräch mit Russland zu suchen, um Europa sicherer zu machen.
Warum ist die Annäherung an Russland für Deutschland so wichtig?
Russland ist das größte Flächenland der Welt und liegt mit uns unverrückbar auf dem europäischen Kontinent, es gehört also zu Europa. Wir teilen denselben Raum, dieselbe Kultur. Wir sind seit vielen Jahrhunderten verbunden und müssen begreifen, dass es niemals Frieden und Stabilität geben wird, wenn die direkten Nachbarn der Europäischen Union nicht darin eingebunden sind.
In einer Zeit, in der sich die USA von Europa teilweise distanzieren und in der der Ferne Osten mit China zu einer Großmacht aufgestiegen ist, kann Europa schnell zum Spielball der beiden Supermächte werden. Deshalb ist es wichtig für die fast rohstofffreie Europäische Union, in sinnvoller Partnerschaft mit Russland eine starke wirtschaftliche Macht zu werden. Mit unserem gemeinsamen Know-how und den fast unerschöpflichen natürlichen Ressourcen der Russen bleiben wir wettbewerbs – und damit zukunftsfähig.
Russland, insbesondere Putin, hat in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Schritte auf Europa und die USA zu gemacht. Warum haben die USA und Europa die Bitten der Annäherung trotzdem ignoriert?
Ich glaube, dass das ein Denkfehler in den 1990er Jahren war. Viele dachten, dass sich Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht mehr erholen würde. 2001 bekräftigte Putin in einer Rede im Bundestag nochmal seinen Wunsch, Partner des Westens zu werden und schlug einen gemeinsamen Wirtschaftsraum und eine neue Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands auf Augenhöhe vor. Ebenso sicherte er Gorge W. Bush seine Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus zu – und das gegen Widerstände aus dem eigenen Land. Damals klatschte man in Deutschland und Europa Beifall, doch ist niemand im Anschluss auf Russlands Wunsch eingegangen. Obama bezeichnete später Russland als „Regionalmacht“, ein deutliches Zeichen dafür, für wie gering man dessen globalen Einfluss noch vor wenigen Jahren einschätzte.
Ein großer Fehler. Statt das Angebot Russlands aufzunehmen, dachten die USA, sie sei alleine auf der Welt und interpretierten die zeitweise Schwäche Russlands falsch.
In einer politischen und diplomatischen Weltordnung sollte es selbstverständlich sein, bei Wahrung seiner eigenen Interessen auf andere zugehen zu können und auch deren Interessen zu berücksichtigen. Im Rahmen der Wiedervereinigung Deutschlands mahnen Sie an, dass die alten Bundesländer zu wenig darauf geachtet hätten, die Interessen der ehemaligen DDR-Bürger*innen zu beachten und ihnen nicht die Gelegenheit gaben, etwas Eigenes, ein Stück Identität mit in die Wiedervereinigung nehmen zu können. Muss sich die westliche Welt Überheblichkeit vorwerfen lassen?
In Europa hat man die Chance nach 1990 für einen wirklichen Neuanfang nicht ausreichend genutzt. Man dachte, dass es das jetzt war. Der amerikanische Philosoph Francis Fukuyama bezeichnete den Zeitgeist als „Ende der Geschichte“ und beschrieb damit die Annahme, dass über kurz oder lang überall ausnahmslos liberale und demokratische Staaten westlichen Zuschnitts entstehen würden. Sich ernsthaft Gedanken über die Neugestaltung der Beziehungen in Europa, also auch zu Russland, zu machen, sah man deshalb wohl als unnötig an.
In den 1990er Jahren musste Russland einen harten wirtschaftlichen und politischen Systemwechsel vollziehen, der Staat stand kurz vor dem Zerfall. Insbesondere durch Putin ist Russland heute durchaus wieder eine, wenn auch eher autokratische, Weltmacht geworden. Wir müssen nun begreifen, dass diese auch Interessen hat – wie unsere amerikanischen Verbündeten dies übrigens für sich ja auch ganz klar reklamieren. Diesen Fakt gilt es in kluge, weitsichtige Politik zu gießen und Schnittmengen in den Interessen herauszudestillieren.
Haben die USA und Europa etwas gegen ein wirtschaftlich starkes Russland?
Ich hoffe nicht. In unserem eigenen Interesse sollte Russland, die zweitgrößte Atommacht der Welt, möglichst ein wirtschaftlich und gesellschaftlich stabiles, prosperierendes Land sein. Russland ist für die Entwicklung und Sicherheit Europas essentiell. Wir sollten die Gelegenheit nutzen, dass Russland immer noch ein großes Interesse an einer engen Zusammenarbeit mit der EU hat. Man muss ja kein Russlandfreund sein, um Russland sachlich, nüchtern und als Partner auf Augenhöhe zu begegnen und Wege zu suchen, um die seit fünf Jahren bestehenden Sanktionen zu lockern, denn diese haben nachweislich die beabsichtigen Ergebnisse nicht gebracht – ganz im Gegenteil.
Ist denn alles gut, was aus Russland kommt, und macht Europa alles falsch?
Selbstverständlich nicht. Auch Russland trifft Entscheidungen, die meines Erachtens falsch waren und sind. Allerdings gibt es in Sachen Kritik an russischen Handlungen und Vorgehensweisen bei uns ja nun wirklich keine „Marktlücke“, darüber kann sich jeder rund um die Uhr gut informieren…
Wir sind trotz aller Schwierigkeiten gut beraten, uns zu vergegenwärtigen, dass keine der für unsere Zukunft wichtigen Fragen ohne oder gegen Russland lösbar ist. Ob in den Bereichen Energieversorgung, Klimaschutz, Flüchtlingspolitik, Abrüstung, Terrorabwehr, Regelung von Fragen in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und anderen Themen wird es, wie auch unsere Bundeskanzlerin neulich bei ihrem Moskaubesuch anmerkte, ohne Russland nicht gehen.
Was kann man selbst, außerhalb der Politik tun, wenn man an einer besseren Beziehung zu Russland interessiert ist?
Um ein gutes Verhältnis zu Russland aufbauen zu können, muss man es vor allem kennenlernen. Das geht auf unterschiedlichste Weise. Mehr Schulen oder Hochschulen als bisher könnten z.B. Partnerschaften mit Schulen in Russland eingehen, so den Austausch junger Leute fördern. Hier würde Visafreiheit für unter 25-Jährige, für die ich mich seit langem einsetze, das Reisen nach Russland wesentlich vereinfachen. Auch Städtepartnerschaften erweisen sich immer wieder als eine gute Möglichkeit des Miteinander, das Deutsch-Russische-Forum hilft hier gern bei der Vermittlung. Auch die Urlaubsplanung nach Russland ist ein Schritt, Land und Leute kennenzulernen.
Zusätzlich gibt es Organisationen, die sich dem freundschaftlichen Verhältnis zwischen Deutschland und Russland widmen. Darunter unser Deutsch-Russisches-Forum, der Petersburger Dialog, die Ost-West-Gesellschaften und viele andere. Diese bieten eine Vielzahl an Veranstaltungen an, an denen Interessierte teilnehmen können.
Deutschland und Russland sind seit Jahrhunderten so stark miteinander verwoben, wie keine zwei anderen Völker auf der Welt. Bei allen Höhen und teilweise dramatischen Tiefen in den Beziehungen haben sich viele Deutsche und Russen ihre Sympathien für einander erhalten. Das ist ein ganz großer Schatz, auf dem wir aufbauen und mit dem wir in der Zukunft sehr sensibel umgehen sollten.
Sehr geehrter Herr Platzeck, wir bedanken uns für das sehr interessante Gespräch.
Das Gespräch führte Steve Schulz
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