Interview mit Jakob Falk, dem neuen Pfarrer des Pfarrsprengels Fahrlands (Fahrland, Neu Fahrland,
Kartzow, Satzkorn, Paaren und Falkenrehde) TEIL 2
(Teil 1 des Interviews lesen Sie hier.)
Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg haftet ja auch an jeder Familiengeschichte. Viele haben das verdrängt und beschäftigen sich gar nicht mehr damit. Aber die Erinnerung und der Schmerz – das ist ja alles noch irgendwo vorhanden.
Das ist richtig. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat es permanent jedes Jahrzehnt immer wieder sogenannte Schlussstrichforderungen gegeben. Die in eine Richtung gingen, dass man über diese Themen nicht mehr spricht oder ein für allemal als erledigt ansieht. Das darf es aus meiner Sicht nicht geben. Und wenn solche Schlussstriche heute vor allem von der AfD hervorgebracht werden, dann finde ich das äußerst gefährlich.
Wie gesagt, das ist nichts Neues. Das hat es früher auch schon gegeben. Von anderen Parteien. Wenn Herr Höcke davon spricht, dass wir ein Denkmal der Schande in unsere Hauptstadt gesetzt haben und dass es eine 180-Grad-Wende in der Erinnerungsarbeit geben müsste. Und dass wir uns mehr auf die glorreichen Zeiten der Deutschen konzentrieren sollten als auf die schwierigen Seiten. Dann finde ich das gefährlich.
Und dass Leute sagen, die heute, so viele Jahrzehnte später, aufwachsen. „Ich habe damit nichts zu tun.“ und man dann auch noch sagt „Ist ja nicht schlimm, ist ja erledigt.“, dann ist die Gefahr, dass so etwas in Vergessenheit gerät, extrem. Ich denke, wir müssen uns einfach auch im Klaren darüber sein, dass das, was damals geschehen ist, auch nicht mit anderen geschichtlichen Ereignissen in der Form zu vergleichen ist.
Manche sagen: „Naja, dann müssten wir auch noch an den Dreißigjährigen Krieg erinnern…“ oder an dieses oder jenes Ereignis. Das stimmt, sollten wir auch tun. Die Geschichte ist voller Grausamkeiten, und eigentlich sind sie es wert bzw. die Menschen, die darunter leiden und sterben mussten, wären es wert, dass man daran erinnert. Aber dieser industrielle Massenmord, den die Nationalsozialisten betrieben haben, ist mit keinem geschichtlichen Ereignis zu vergleichen. Wenn der wie andere Ereignisse in der Geschichte nur noch im Geschichtsbuch steht und nicht mehr im Leben der Menschen vorkommt, halte ich das für äußerst gefährlich und auch total falsch. Denn das einzige, was wir überhaupt diesen Menschen noch geben können, ist, dass wir ihrer gedenken.
Ich habe hier neulich einen Filmabend veranstaltet zum Thema „Die zweite Schuld der Deutschen“. Das bezieht sich eben primär darauf, dass man seine Schlussstrich-Debatte macht, dass man Täter nicht verurteilt hat. Dass man Opfer nicht entschädigt hat und dass man Teil daran hatte, dass das Thema nicht aufgearbeitet wird. Das war in vielen Jahrzehnten ein großes Problem.
Und wenn man sich jetzt überlegt: Erst hat man diese Menschen auf die furchtbarste Art und Weise umgebracht, und dann hat man ihnen noch angetan, dass man die Taten verschleiert und nicht durchkommen lässt. Ich weiß gar nicht, was schlimmer ist, die Menschen erst so grausam umzubringen oder dann so zu tun, als hätte es das nicht gegeben, und als wäre es nicht wert, an diese Menschen weiter zu denken. Und es wird ja immer wieder gesagt in diesen Schulddebatten „Wir haben keine Schuld an dem, was früher passiert ist“, kann man drüber diskutieren. Ich würde mal sagen, wir haben eine Verantwortung für die Generationen vor uns, seien es Eltern oder Großeltern.
Aber, was die Erinnerungsarbeit angeht, da können wir Schuld auf uns laden, wenn wir die Themen verdrängen und nicht mehr stattfinden lassen. Manche Leute können es nicht mehr hören. Andere, die können es nicht mehr ertragen. Aber beides ist für mich kein Grund zu sagen, wir machen es nicht mehr. Ganz im Gegenteil.
Sie hören vielleicht raus: Ich verstehe Gemeindearbeit, ich verstehe meine kirchliche Arbeit durchaus politisch und habe da eine sehr klare Haltung. Und auch Orientierung. Als ich im Predigerseminar in Wittenberg war, während der Vikariatszeit, hat man in meiner abschließenden Beurteilung geschrieben, dass ich eine politische Theologie vertreten würde. Ich muss damit ein bisschen aufpassen. Politische Theologie kann Verschiedenes bedeuten. Hat es auch in der Geschichte. Wenn man das im Sinne Jürgen Moltmanns formulierte, komme ich damit schon ganz gut klar.
Aber es gab auch mal eine politische Theologie, die sehr nah an der NS-Ideologie dran war. Es gab da die absurdesten Dinge. Meine Mutter hat mir neulich ein Buch mitgebracht aus Eisenach. Da gab es das sogenannte „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“. Das war quasi ein „Zentrum zur Entjudung der Bibel“. Eine völlig absurde Geschichte. Die haben versucht, alles Jüdische aus der Bibel herauszustreichen. Wenn man bedenkt, dass das Alte Testament ja im Grunde genommen die Heilige Schrift der Juden ist und sämtliche neutestamentlichen Texte, die von Jesus, dem Juden, handeln und diesen untrennbaren Bezug haben, ist das eigentlich wirklich absurd! Aber es hat so etwas gegeben und deswegen muss man, wenn man von politischer Theologie spricht, auch vorsichtig sein. Damit man weiß, wie ist es gemeint.
Ich verstehe, dass es sich aus ihrer christlichen Verantwortung heraus generiert. Ein spannendes Thema, weil Christen natürlich eine Verantwortung aus ihrem Glauben heraus für die Gesellschaft haben. Und wie weit geht das? Wie weit können sie das in Ihrem Alltag ausleben?
Ich habe schon vor einigen Jahren eine wichtige Erkenntnis gewonnen, beeinflusst vom Theologen Jürgen Moltmann. Das Christentum wird ja immer wieder gern reduziert auf den Aspekt der Nächstenliebe.
Eine ethische Forderung, die man fest mit dem Christentum, mit der Bergpredigt und so weiter in Verbindung bringt. Mir ist aber aufgefallen, dass das, was wir tun, wenn wir auf unsere Nächsten zugehen, im Grunde genommen mehr ist als Ethik und Sittlichkeit. Das ist im Grunde Christologie. Christologie ist ja die Lehre von Christus.
Moltmann zitiert einen Text aus der Bibel (Matthäus 25). Da werden einige Gruppen von Menschen aufgezählt, die es schwer haben: Bedürftige, Arme, Gefangene. Was besonders auffällig ist, auch Fremde und Geflüchtete! Und dann heißt es (Jesus spricht quasi aus deren Mund): „Wo ihr mir etwas zu essen und Kleidung gegeben habt, wo ihr mich als Fremden aufgenommen habt, da habt ihr mich aufgenommen. Wo ihr das nicht gemacht habt, da habt ihr mich nicht aufgenommen.“ Was heißt das? Das heißt, wenn wir zum Beispiel einen Bettler auf der Straße sehen oder einen Geflüchteten oder ins Gefängnis gehen und jemanden treffen, treffen wir niemand anderen als Christus. Die Aussage Moltmanns über die Christologie, wie man sich eigentlich Jesus Christus vorstellt in unserer Zeit, das machen sich viele nicht so ganz bewusst.
Es ist ein Unterschied, ob man einfach sagt „Du sollst deinen Nächsten lieben“ oder ob man in diesem Moment Jesus Christus selbst trifft. Das ist ein anderes Bild, kein klassisches Bild von Jesus. Klassisch würde man vielleicht sagen, man glaubt daran, dass man Jesus Christus im Abendmahl präsent hat, was ja auch nicht falsch ist.
Aber plötzlich, in solchen brisanten Situationen, fühlt man auch Christus. Diese Solidarität Christi mit den ausgegrenzten und schwächeren Gliedern der Gesellschaft, das ist ein Auftrag der Kirche. Und dem können sie sich auch nicht entziehen. Und wenn es dann heißt, die Kirche dürfe sich aber nicht politisch äussern, dann muss ich sagen: „Moment! Die Botschaft von Jesus Christus, das Evangelium selbst, hat eine höchst politische Wirkung.“
Natürlich hat es Zeiten gegeben, wo man sich dieser politischen Verantwortung nicht gestellt hat. Es gibt genügend Kreise, wie zum Beispiel die „Christen in der AfD“ oder andere, eher konservative Kreise. Die würden eine solche Theologie wohl kaum vertreten. Für mich heißt das: Ich habe darüber noch ein bisschen mehr nachgedacht und eine andere christliche Deutung dieses Engagements verstanden.
Es ist auch schön, dass es diese Freiheit innerhalb der Kirche gibt. Das war ja nicht immer so. Dass sich Pfarrer auch so positionieren können, wie sie möchten. Ich bin hier in der DDR groß geworden und habe andere Sachen erlebt. Eine tolle Errungenschaft.
Kommen wir noch einmal zu den ganz praktischen Fragen zurück. Wir haben uns ja zum ersten Mal im Ortsbeirat getroffen. Da haben Sie sich vorgestellt und gesagt, dass Sie auch mit dem Ort zusammenarbeiten möchten. Können Sie das noch mal kurz ausführen?
Das ist natürlich erst mal eine Kennenlernphase und eine Erprobung. Und man muss sehen, mit welchen Leuten man relativ schnell in Kontakt kommt und mit welchen es vielleicht schwieriger ist.
Fahrland ist ein kleines bisschen anders als die Dörfer, die noch weiter draußen liegen. Fahrland hat einen Supermarkt, sogar eine Post, Restaurants und so weiter. Es gibt aber viele Orte, da ist außer der Feuerwehr und vielleicht einem Fußballverein nur noch eine dritte Größe anwesend und das ist die Kirche. Mehr gibts nicht. Nicht einmal einen Bus. Und wenn man dann überlegt, dass die Menschen sich auch noch aufteilen auf die Vereine und öffentlichen Einrichtungen, die es gibt – dann nehmen sie sich gegenseitig quasi ein bisschen die Leute weg. Alle sitzen mit ein paar Hanseln am Tisch.
Was ich sagen will, ist, wenn wir merken, dass wir da eine gemeinsame Gestaltungsmöglichkeit haben, dem Ortsleben eine gewisse Lebendigkeit zu geben, dann kann man das am besten zusammen machen. Indem man z.B. gemeinsam auf bestimmte Planungen guckt, wie neulich im Ortsbeirat oder auch gemeinsam Feste feiert – und so den Zusammenhalt vor Ort gut hinbekommen kann.
Das ist nicht so leicht. Ich weiß, dass insbesondere auch in den Gebieten der ehemaligen DDR die Vorurteile gegenüber der Kirche noch immer sehr groß sind. Ich habe das schon selbst persönlich gehört und erfahren. Und wenn man dann auf die Gemeinde, also die Ortsgemeinde, zugeht, ist das, glaube ich, eine gute Möglichkeit, da vielleicht auch mal ein paar Türen zu öffnen.
Ich bin keiner, der gern offensiv missioniert. Ich stelle gern Kontakte her. Wenn sich daraus mehr ergibt, dann ist das toll. Aber ich möchte die Leute nicht unter Druck setzen. Ich glaube, das fordern manche. Und das ist auch ein Unterschied in der Frömmigkeit, aber auch in der Strategie. Mein Ansinnen ist es nicht. Ich denke, wenn wir mit den Leuten erst mal ins Gespräch kommen, wie bei der Arbeitsgruppe Pogromgedenken, wenn man in bestimmten Themen zusammenarbeiten kann, ist das schon viel mehr wert. Als wenn man nur so aneinander vorbei lebt. Dabei betreffen die Prozesse auf dem Land ja alle. Die Kirche vielleicht noch ein bisschen intensiver, was Identitätsverlust und Mitgliederschwund angeht, als eine Feuerwehr. Die können sich ja oft doch ganz gut halten.
Und trotzdem ist es so, dass viele junge Leute wegziehen vom Land. Ich bin zum Studium auch nach Berlin gegangen. Was will man den Leuten vorwerfen? Natürlich machen die das. Da muss man sehen, dass man mit denen, die noch da sind, ein attraktives Landleben gestaltet.
Das ist ja in Fahrland nicht das Problem. Hier kommen ja eher mehr, viel mehr Leute, auch junge Leute dazu, die erst mal eine Identität zu ihrem neuen Ort und zu ihrem neuen Dorf finden müssen oder einen Bezug zu dem gesellschaftlichen Leben hier.
Fahrland ist echt noch mal was anderes: Zum einen die Berlinnähe, zum anderen die politische Zugehörigkeit zu Potsdam. Das ist „Landleben light“ vielleicht. Das ist noch nicht so heftig. Aber was ich noch sagen wollte: Ich hatte Feuerwehr und Sportvereine als Beispiele genannt. Ich denke, dass auf manche Lebensfragen, gerade von jüngeren Menschen, diese Einrichtung nicht unbedingt Antworten geben können. Weil das vielleicht auch einfach ihre Kompetenzen übersteigt. Sie sind kein Lebensdeutungsinstitut. Da könnte ich mir vorstellen, dass Kirche als Ansprechpartner eine andere Dimension erreicht, die im Ort angeboten werden kann.
Was ähnlich ist, ist, dass man was gegen den Mitgliederschwund machen muss. Ich habe jetzt nicht so einen Einblick, aber ich glaube nicht, dass es bei so etwas wie bei der Feuerwehr oder anderen eine Sitzung gibt, bei der man auch mal über den Sinn des Lebens fragt.
Wenn ich jetzt in der Feuerwehr wäre, ich würde mich das vielleicht auch ein bisschen überfordern. Aber warum nicht mal der Einladung des Pfarrers folgen und über solche Dinge sprechen, wen es interessiert? Und die Leute mal einladen, zum Beispiel zu unserem Sprengelfest, was wir geplant haben wir dieses Jahr? Einfach mal ins Gespräch kommen. Und zwar nicht nur mit mir, sondern auch mit den anderen Leuten der Gemeinde, die ja hier neben allen anderen auch wohnen.
Werden Sie denn nach den zwei Jahren Entsendungsdienst hierbleiben? Was sind Ihre Pläne?
Das ist unklar. Nach zwei Jahren endet es offiziell. Es gibt die Möglichkeit, sich danach zu bewerben, dass man hier bleibt. Letztlich ist es dann allerdings eine Entscheidung des Pfarrsprengels, also der Gemeinden. Ich muss erst einmal eine Bewerbung schreiben, wenn ich der Meinung bin, dass es gut wäre, hierzubleiben. Und dann muss die Gemeinde sagen, ob sie das will oder nicht.
Das stelle ich mir gar nicht so einfach vor. Als Pfarrer ist man wahrscheinlich darauf vorbereitet, dass man immer wieder seine Heimat wechseln muss. Wenn man sich vielleicht gerade mal langsam daran gewöhnt hat. Zwei Jahre sind ja nichts. Dann fühlt man sich vielleicht gerade mal ein klein bisschen zuhause.
Es gibt ja diese Regel, dass man als Pfarrer, wenn nicht irgendwelche Gründe dagegen sprechen, maximal zehn Jahre an einem Ort bleibt. Aber alle Menschen, die älter werden, wollen sich dann auch irgendwann mal festlegen, wie sie leben wollen und wo sie leben wollen. Das ist eine Schwierigkeit. Ich habe nicht wenige Kollegen, die sagen auch aus solchen Gründen: Sie wollen nicht ins Pfarrhaus, weil klar ist, dass das Pfarrhaus nicht der Ort ist, an dem man ewig bleibt. Das Pfarrhaus ist ein Gebäude, das zur Gemeinde gehört und in dem der Pfarrer wohnt, solange er Dienst hat, nicht darüber hinaus.
Lieber Herr Pfarrer Falk, herzlichen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Susanna Krüger am 12.2.2020.
Pfarrer Falk hat einen YouTube-Kanal. Am 22.3.2020 sendete er dort aufgrund des Versammlungsverbots während der Corona-Krise seinen ersten Video-Gottesdienst.