Ein Team hoch motivierter Ehrenamtler birgt Wildtiere aus Wiesen und Feldern, bevor die Erntemaschinen kommen

Ganz flach kauert sich das kleine Wesen auf den Boden. Es ist noch keine drei Tage alt. Im hohen Gras ist es nicht zu sehen. Ein perfekter Schutz gegen Raubtiere, aber fatal, wenn der Mensch ins Spiel kommt. Denn die Mähdrescher machen nicht halt, wenn sie auf den Feldern unterwegs sind, und das Rehkitz hätte keine Chance und würde getötet werden – wären da nicht die engagierten Männer und Frauen des Vereins Rehkitzrettung Brandenburg e.V. Sie sind im Einsatz, sobald die Kitze im Frühjahr geboren werden – und retten so Tag für Tag ein oder mehrere kleine Lebewesen.

Eine einsame Landstraße in Dallgow-Döberitz zwischen dem Falkenseer Ortsteil Finkenkrug und dem Örtchen Rohrbeck. Es ist noch sehr früh – um kurz vor 3 Uhr deutet nur ein ganz dünner Schimmer am Horizont darauf hin, dass es bald Tag wird. Es ist frisch, und über den Feldern hängt ein grauer Dunst. Und dennoch sind schon viele Menschen auf den Beinen. Ein GPS-Punkt per WhatsApp aufs Handy hat ihnen den Ort gezeigt, an dem sie sich treffen. Und nun verraten nur die Abblendlichter der am Feldweg abgestellten Autos den Treffpunkt der ehrenamtlichen Kitzretter.

Mitten auf der Straße ist einer schon voll in seinem Element: Frank Neumann steht mitten auf der Straße und schaut auf die Bilder, die die Drohne ihm aus der Luft liefert. „Wir müssen so früh beginnen, damit das Kitz von der Wärmebildkamera erkannt werden kann. Denn sobald die Sonne aufgeht, erwärmt sich auch das Feld, in dem sich das Rehkitz befindet – und schon bald wird die Kamera es nicht mehr wahrnehmen“, erklärt Frank. Kitze haben eine Körpertemperatur von 39 Grad, ihre Temperatur auf dem Rücken beträgt etwa 21-22 Grad. „Je nach Pflanzenart und Dichte des Bewuchses muss die Drohne entweder höher oder tiefer fliegen“, fügt Vereinsmitglied Lutz Passow hinzu. So könne die Drohne bei einer Wiese in 30 bis 40 Metern Höhe fliegen und muss nur wenige weite Bahnen abfliegen, bei Luzerne-Feldern muss sie weitaus niedriger, langsamer und mehr Bahnen fliegen, um die Kitze nicht zu übersehen.

Der Verein besteht aus einem 45-köpfigen Team engagierter und motivierter Wildtierretter und weiteren 300 bis 350 ehrenamtlichen Helfern. Darunter sind auch neun Drohnenpiloten, die das Absuchen der Felder aus der Vogelperspektive übernehmen. Über Brandenburg hinweg verteilt, organisieren sie sich seit nunmehr elf Jahren, um in der Natur ein Stück Leben zu bewahren. „Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, hilflose Tiere und vor allem Rehkitze vor Verletzungen und Tod durch landwirtschaftliche Maschinen zu bewahren“, erklärt Vereinsgründerin Martina Stolle aus Seeburg, einem Ortsteil von Dallgow-Döberitz. „Und unsere Einsätze finden im Wesentlichen während der Brut- und Setzzeit statt, denn dann sind vor allem Jungtiere gefährdet, die den modernen landwirtschaftlichen Maschinen häufig nicht entkommen können.“ Die Winzlinge bleiben also geduckt liegen, während die Ricken die Flucht ergreifen und erst zurückkommen, wenn die Gefahr vorüber ist. Doch dann ist es für die Kitze meist schon zu spät.
Dass diese Rettungen dringend notwendig sind, verdeutlichen die Zahlen: Schätzungsweise rund 90.000 Rehkitze sterben pro Jahr in Deutschland unter den Mähwerken der Landwirte. Der fehlende Fluchtimpuls wird ihnen zum Verhängnis, wenn das Mähwerk naht. Oft werden die Beine vom Körper des Kitzes getrennt, und die Tiere sterben qualvoll. Dabei sind die Landwirte gesetzlich verpflichtet, ihre Felder im Vorfeld auf Wildtiere abzusuchen, bevor sie sie mähen. Sie müssen sicherstellen, dass sich kein Tier mehr in ihren Feldern befinden, denn laut Tierschutzgesetz darf keinem Tier grundlos Leid zugefügt werden.

Mittlerweile nutzen viele Landwirte das Angebot der Rehkitzretter, im Vorfeld die Felder per Drohne abzusuchen. „Sie setzen sich mit uns in Verbindung, und wir vereinbaren dann gemeinsam den Termin der Suche vor der Mahd“, sagt Frank. Das tut auch Bernhard Schlegel an diesem Morgen. Der Landwirt ist bereits mit seiner Mähmaschine vor Ort, um den Einsatz auf seinen 38 Hektar großen Feldern zu besprechen, deren Grün als Futter für seine Pferde dient. „Früher sind wir immer mit einer Menschenkette durch die Felder gelaufen“, sagt er. Heute nimmt er die Hilfe der Rehkitzretter in Anspruch. Zu leicht könne man ein Kitz übersehen. Immer bei diesen Einsätzen dabei ist auch ein Jäger. „Schließlich dürfen wir Wildtiere nicht so einfach aus der Natur entnehmen“, erklärt die Vereinsvorsitzende.

Es werden auch immer mehr Kitze, die gerettet werden müssen. „Der Lebensraum der Wildtiere wird geringer, denn Menschen nehmen immer mehr Platz in der Natur ein“, sagt Frank. Und Marina fügt hinzu: „So sammeln sie sich auf den noch verbliebenen Feldern und im Sommer haben wir einmal 15 Kitze auf einem einzigen Feld gerettet.“ Der Ablauf eines Einsatzes ist bereits Routine: Per Drohne wird das Feld aus der Luft abgesucht. Wenn das Retterteam Kitze entdeckt, werden diese behutsam aufgenommen. Handschuhe und ein Grasbüschel zwischen Kitz und Hand sind dabei Pflicht. Denn der Geruch des Kitzes sollte nicht verfälscht werden. Das Kitz wird dann in eine Transportbox gebracht und bleibt dort so lange, bis das Feld gemäht ist. Das Tier wird dann nahe des Feldes wieder abgelegt, damit die Ricke ihr Junges wiederfindet. Im Feld von Landwirt Schlegel liegen zwei Kitze eng aneinandergeschmiegt. Das kann Frank mit der Wärmebildkamera genau sehen. „Sie sind allerdings zu groß, ihr Fluchtinstinkt möglicherweise schon zu ausgeprägt, um sie per Hand einzufangen“, sagt Marina Stolle. So entscheiden sie gemeinsam mit Jäger und Landwirt, dass die Mähwerke um die Kitze erst einmal herumfahren soll. Und so geschieht es dann auch: Frank hat die Kitze per Drohnenkamera im Blick, während Schlegel seine Maschine in einem kleinen Bogen drum herumfährt. Als alles weitere gemäht ist, werden die Zwillinge aufgescheucht – und der Landwirt kann auch die kleine Restfläche abmähen.

„So eine tolle Zusammenarbeit wünschen wir uns mit allen Landwirten“, sagt Frank. Doch einige würden sich weigern, anderen seien die Kitze egal. „Was ich nicht ganz verstehen kann – denn das gemähte Gras ist ja dann durch das zerhäckselte Tier mit Blut und Fell und Knochen verunreinigt und kann Krankheiten bei den Tieren verursachen, die das Grünfutter fressen“, sagt Frank. Doch zum Glück melden sich immer mehr Landwirte, um ihre Felder im Vorfeld der Mahd von den Rehkitzrettern absuchen zu lassen. „Wir wollen niemanden überreden oder zwingen, sehen uns als Vermittler zwischen den einzelnen Gruppen“, sagt Marina. Auch aus diesem Grund sind sie Mitglied im Landesjagdverband und führen Workshops durch. Auch auf großen Messen, Märkten und Veranstaltungen ist der Verein vertreten, beispielsweise auf der Grünen Woche.

In den Hochzeiten der Kitzgeburten leiden Marina, Frank und ihre engagierten Helferinnen und Helfer ständig an Schlafmangel, denn nahezu jede Nacht bzw. an jedem frühen Morgen vor Sonnenaufgang wartet ein Einsatz. Jeden Tag quasi mitten in der Nacht aufzustehen, zehrt an den Nerven – schließlich sind Frank und Marina voll berufstätig und müssen morgens ganz normal zur Arbeit. „Doch der Wunsch, liegen zu bleiben, verschwindet ganz schnell wieder aus meinem Kopf. Wer einmal ein Kitz hat schreien hören, dessen Beine abgemäht wurden, wird immer aufstehen – ganz egal, wie müde er ist“, sagt der 45-Jährige. Kurz nach Sonnenaufgang – bevor andere Menschen Brandenburgs aufstehen – ist die Arbeit dann meist schon getan. Und während Marina dann im Anschluss ihre Arbeit als Außendienstmitarbeiterin eines medizinischen Unternehmens angeht, fährt Frank in die Schule. Dort unterrichtet er Schach.
Franziska Lechtenbrink