Mehr Potential als man denkt
Outet man sich in der heutigen Zeit als konservativ, so kassiert man sich fast automatisch den Vorwurf, man sei wohl ein Ewiggestriger, der sich zudem wohl ausschließlich auch nur auf die Information öffentlich-rechtlicher Sender verlasse. Konservativ mit ewiggestrig gleichzusetzen, um damit den Gegenüber politisch abzuqualifizieren, klingt zwar gut, trifft aber nicht den eigentlichen Punkt.
Sind wir nicht alle möglicherweise viel konservativer als wir denken oder wahrhaben wollen? Das oben genannte Narrativ macht es uns schwer, sich als konservativ zu outen, denn im heutigen politischen Mainstream gilt links als politisch sexy, fortschrittlich und modern.
Geradezu täglich hört man an erster Stelle von Politikern und Politikerinnen, aber nicht nur den denen, sondern auch von großen Teilen der Bevölkerung, die Klage über einen zunehmenden Werteverfall: Während sich früher Werteverfall beispielsweise in Respektlosigkeit der Schüler gegen ihren Lehrern ausdrückte, drückt sich heute ein zunehmender Werteverfall unter anderem in Hassmails und Shitstorms aus. Wer diese Situation ändern will, will zu einem früheren Status zurück, er will einen früheren Status bewahren, er will ihn konservieren, weil er ihn als besser empfindet. Genau das bedeutet konservativ: Bewährtes bewahren (auch wenn diese Floskel abgedroschen klingen mag!).
Wenn Teile der Gesellschaft die AfD weg haben wollen (um es einmal so unbestimmt zu formulieren), dann sehnen sie sich nach einem Parteiensystem, wie wir es in Deutschland einmal hatten: Teile der Gesellschaft wollen ein bewährtes Parteiensystem bewahrt sehen. Was anderes ist das als konservativ? Mit einem „Loswerden“ der AfD wäre dann allerdings auch eine Rückkehr konservativer Politikinhalte in die Mitte der Gesellschaft verbunden (!)
Wenn wir alle Plastik einsparen und mit unserer Umwelt nachhaltig umgehen wollen, dann müssen wir konservativ einkaufen gehen: Unsere Verpackung (Schüsseln und Dosen) für Butter etc. nehmen wir dann in Zukunft selber mit, Gleiches gilt mit unseren Taschen für Obst und Gemüse. Fleisch kaufen wir beim lokalen Metzger, der sanft schlachtet und kein Fleisch von hochgezüchteten Turbo-Tieren verkauft und Respekt vor der Kreatur und der Natur zeigt. Einkaufen, wie in der guten alten Zeit – genau dahin wollen wir zurück. Genau das ist nachhaltig, das ist umweltbewusst – eben konservativ!
Thema Wohnraum: Ja, wir alle wollen Wohnraum, den man sich finanziell leisten kann – so wie es eben früher war, bevor beispielsweise der Senat Tausende von Wohnungen privatisierte. Genau dahin wollen wir zurück. Leider ist damals nicht an Bewährtem festgehalten worden. Die Lösung jetzt heißt – so meinen zumindest viele – Mietendeckel: Die damit diskutierte Verstaatlichung kann man höchstens als sozialistisch konservativ bezeichnen, denn einen solchen Zustand kennen wir aus der DDR. Und in diesem Fall darf es eben nicht zutreffen: Bewährtes zu bewahren.
Schlussendlich heißt das also: Wir sehnen uns zunehmend nach Konservativem. Konservativ ist durchaus modern – man muss es nur erkennen und den Mut haben, es als solches zu bezeichnen. Konservativ ist in jedem Falle alles andere als ewiggestrig.
Erst durch gezielte Vergleiche zwischen früher und heute, zwischen Alt und Neu, können Neuerungen auch tatsächlich und seriös als besser beurteilt werden. Blinder Fortschrittsglaube um seiner selbst willen, der nicht hinterfragt und geprüft wird, läuft ins Leere. Dabei bleibt natürlich die Definition, was unter besser zu verstehen ist, stark subjektiv.
Was wir als moderne Gesellschaft dringend benötigten, um einem falschen und leeren Fortschrittsglauben entkommen zu können, ist ein neues Narrativ zum Begriff konservativ: Wer die Gesellschaft tatsächlich nachhaltig und besser verändern will, sollte dringend und ernsthaft das Instrument des Konservativen – nämlich den Vergleich mit Bewährtem – als Bewertungskategorie für vermeintlich neue politische Lösungen einführen. Nachhaltiger Fortschritt benötigt diesen Abgleich. Soll heißen: Echter Fortschritt funktioniert nicht ohne konservatives Denken.
Dr. Gregor Ryssel