Die Regierung unseres Landes ist durch die Corona Krise in eine missliche, bisher aber glücklicherweise singuläre Situation geraten: Sie muss(te) gesundheitliche Interessen gegen wirtschaftliche Interessen abwägen. Dies wünscht man keiner Regierung!
Politiker und Politikerinnen orientierten sich in dieser Krise in ihren Entscheidungen zu Recht an Medizinern, in diesem Falle an Virologen. Politische Entscheidungen, wie der Lockdown, wurden „medizinisch“ begründet. Nur deswegen – nämlich vor dem Hintergrund einer medizinischen (nicht einer politischen) Indikation – wurden sie von den Menschen im Lande akzeptiert: Größere persönliche Einschränkungen wurden hingenommen.
Mittlerweile spüren wir aber, was uns zu schaffen macht: unser soziales Leben ist massiv eingeschränkt: Umarmungen bei Begrüßungen und Verabschiedungen, aber auch bei Freude und Trost waren und sind weitestgehend verboten, Restaurantbesuche – also gemeinsames Essen, Trinken und Reden – waren verboten, gemeinsames Feiern mit Freunden und Bekannten ebenso, es herrscht(e) Besuchsverbot in vielen Seniorenheimen und Krankenhäusern, Großveranstaltungen (Konzerte, Fußballspiele) werden offensichtlich noch für längere Zeit nicht möglich sein, wichtiges Abschiednehmen bei Beerdigungen sind ebenfalls nur sehr eingeschränkt möglich.
Es trifft uns in unserem menschlichen Kern. Es geht um unser Miteinander und Zueinander, um das, was uns in unserer Gesellschaft verbindet. Es geht um Emotionen und Gefühle, die wir in unserer naturwissenschaftlichen Welt, in der alles bewiesen sein muss, nur allzu gerne auch verdrängen würden. Doch wir brauchen sie, um mit anderen Menschen tagtäglich zusammenleben zu können, um diese verstehen zu können. Wir sind im täglichen Miteinander auf sie angewiesen, im wahrsten Sinne des Wortes „berühren“ sie uns, oder wir berühren mit ihnen andere, indem wir ihnen zum Beispiel Trost spenden. Diese Emotionen strukturieren unser Leben und machen es für uns verständlich und lebenswert.
Die oben beschriebenen Emotionen und Gefühle gegenüber unseren Mitmenschen sind für unsere Gesellschaft und Politik wichtig: Sie drücken Respekt vor dem Anderen aus. Es ist ein Wert, der gesellschaftlich ausgedrückt auf das geachtete Zusammen und Miteinander setzt, politisch ausgedrückt auf das Solidarische: Letztlich geht es um den Wert des Menschen, den Christen – zu Recht, wie ich finde – christlich nennen: Es geht um die Würde des Menschen.
Die Würde ist – das sollten wir nie vergessen – systemrelevant. Ohne sie geht es in unserer freien Gesellschaft nicht. Ohne sie wird die Gesellschaft in sich zusammenfallen. In diesem Zusammenhang muss sofort die Frage gestellt werden, wie wir beispielsweise zukünftig mit älteren und kranken Menschen umgehen wollen?
Bürgerinnen und Bürger weisen mehrfach, unter anderem auch auf sogenannten Anti-Corona-Demonstrationen, darauf hin, dass sie genau eine solche Entwertung der Gesellschaft nicht wollen bzw. fürchten. Dass auf derartigen Demonstrationen auch Trittbrettfahrer unterwegs sind, sei nicht angezweifelt.
Dennoch: Demonstrieren gilt in Deutschland als Grundrecht oder vielleicht sogar schon als ein Grundwert des Systems. Deswegen täten Politiker und Politikerinnen wie auch Journalistinnen und Journalisten gut daran, die Menschen überall – auch dort (!) – wertzuschätzen und nicht – weil einige Rechte oder Linke dort Trittbrett fahren oder nur weil Menschen eine Mindermeinung vertreten – sie politisch sofort zu diskreditieren. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, es gilt freie Meinungsäußerung. Beides – wie ich finde: auch systemrelevante Begriffe! Das Demonstrationsrecht reiht sich in diese Reihe ebenfalls mit ein.
Es ist davor zu warnen, die Corona-Krise dazu zu nutzen, ein System zu kreieren, in dem menschliche Emotionen und menschliches Denken ausschließlich durch Technik ersetzt werden. Das wird eine andere Gesellschaft – das ist dann nicht mehr unsere Gesellschaft.
Menschen benötigen vielmehr Werte als Handlungsmatrix für ihr Handeln (siehe unser Grundgesetz). Je mehr Technik unser alltägliches Leben bestimmt, desto mehr sind wir aufgefordert, Werte in den Mittelpunkt unseres Denkens zu setzen, um unsere Gesellschaft nicht von uns selber zu entfremden.
Gregor Ryssel