Annalena Baerbock, die Kanzlerkandidatin von der Partei Bündins 90/ Die Grünen, im Gespräch mit dem POTSDAMER
Weiter geht es mit der Vorstellung der Kanzlerkandidaten im Wahlkreis 61. Dieser wird am 26.09. dieses Jahres aufgrund seiner hochkarätigen Bewerber um ein Direktmandat – unter ihnen die beiden Kanzlerkandidaten Baerbock und Scholz – ganz besonders das Interesse der Medien auf sich ziehen.
Die Kandidaten Lu Yen Roloff (parteilos) und Norbert Müller (DIE LINKE) haben wir bereits vorgestellt. Weiter geht es diesmal mit Annalena Baerbock. In den kommenden Monaten werden wir auch alle weiteren Kandidaten vorstellen: Linda Teuteberg (FDP), Tim Krause (AfD), Saskia Ludwig (CDU) und Olaf Scholz (SPD). Und auch wenn sich alle Bewerber um einen Sitz im Deutschen Bundestag zur Wahl stellen, sie kommen nicht umhin, sich auch den Themen ihres Wahlkreises anzunehmen.
Der POTSDAMER fragt nach:
Als Kanzlerkandidatin der Grünen könnten die Bürgerinnen und Bürger Potsdams befürchten, dass Sie den Bezug zu Potsdam verlieren. Sie sagten aber, dass Sie „vor Ort verankert“ sein und „den Blick über den Tellerrand“ werfen möchten. Wie setzen Sie das um?
Mein Herz und mein Zuhause sind seit Jahren in Potsdam. Hier gehen meine Kinder in die Kita und zur Schule. Hier schöpfe ich Kraft. So bleibe ich die ganze Zeit mit einem Bein mit den Menschen in Kontakt und zugleich in der wunderschönen Stadt Potsdam verwurzelt.
Welche elementarsten Aufgaben nehmen Sie aus Ihrem Wahlkreis mit, die Sie im Bundestag lösen möchten?
Aus meiner Sicht gibt es in Potsdam drei Themenbereiche, die auch im ganzen Land eine zentrale Rolle spielen. Zum einen ist es immer schwieriger, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Das gilt insbesondere für Familien und Menschen, die ein geringes Einkommen oder eine kleine Rente beziehen. Was wir deshalb brauchen, ist eine wirksame Mietpreisbremse.
Das Zweite erleben wir in Potsdam im Kleinen, was überall in Deutschland sichtbar ist: Der öffentliche Nahverkehr muss in wachsenden Regionen ebenso mitwachsen. Wenn man sich – zu Nicht-Coronazeiten – morgens in den Regionalexpress drängt, dann spürt man, dass wir einen deutlichen Ausbau brauchen.
Und der dritte Punkt, der mir persönlich extrem wichtig ist: Potsdam wird ja als wohlhabende Stadt wahrgenommen. Aber auch in unserer Stadt gibt es viele Kinder und Familien, die es deutlich schwerer haben als andere, und die mehr Unterstützung brauchen. Deshalb ist für mich das Thema Kindergrundsicherung ein zentrales Projekt für die nächsten vier Jahre. Gerade weil ich auch bei uns in der Region immer wieder erlebe, was es mit Kindern macht, wenn von Zuhause aus eben kein Geld für einen guten Schulranzen oder die Schultüte zur Einschulung zur Verfügung steht.
Potsdams größtes Bau- und Entwicklungsprojekt für die nächsten Jahrzehnte ist Krampnitz. Ein wichtiger Baustein für den Erfolg des Wohnquartieres soll die Erschließung mit der Tram sein. Ist für Sie die Straßenbahn das Verkehrsmittel der Zukunft, in Hinblick auf eine sich immer schneller entwickelnde Technologie?
Die Mobilität der Zukunft ist vernetzt. Das heißt, es gibt verschiedene Verkehrsträger: zu Fuß, mit dem Fahrrad, dem ÖPNV, und in der ländlichen Region spielt auch das Auto noch eine Rolle. Aber in einer Stadt wie der unseren, wo viele Menschen mit dem Auto im Stau stehen, obwohl sie das lieber nicht tun würden, sondern ihre Zeit besser verbringen möchten, spielt die Tram eine große Rolle. Deshalb stehe ich voll und ganz hinter dem Ausbau der Tramstrecke nach Krampnitz. Denn genau dort staut es sich jeden Morgen massiv.
Der Bus ergänzt die Straßenbahn, weil wir immer auch Strecken haben werden, wo die Straßenbahn nicht fährt. Aber wenn wir in kurzer Zeit von einem Teil Potsdams zum anderen fahren wollen, dann ist die Tram eine sehr gute Variante. Und deswegen braucht es nicht nur im Norden, sondern auch in anderen Bereichen eine engere Taktung und den weiteren Ausbau.
Wie grün ist die Stadtpolitik Potsdams, und welchen Einfluss haben Sie auf die grüne Stadtpolitik?
Die Stadtpolitik ist deutlich grüner geworden, weil wir aus den Kommunalwahlen als Grüne sehr ge-stärkt in die Stadtverordnetenversammlung eingezogen sind. Die Stadt macht deutliche Schritte hin zur autofreien Innenstadt. Ein kostenloses Ticket für Schülerinnen und Schüler wird geprüft. Bis 2024 sollen zusätzlich 1.000 neue Bäume gepflanzt werden. Nachhaltigkeit und ökologische Baustandards gehören durch uns jetzt zur Potsdamer Bauleitplanung dazu. Wir haben Energie und Wasser Potsdam (EWP) und das kommunale Wohnungsunternehmen ProPotsdam auf den Weg der Energiewende gebracht. Mit unserem Einsatz für Solarparks im Potsdamer Norden wird in Potsdam bald deutlich mehr Energie aus Erneuerbaren gewonnen. Und wir haben bereits ein Verbot des Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat auf städtischen Flächen durchgesetzt.
Was mir aber in Potsdam vor allem so gut gefällt, und woran unsere Stadtfraktion einen nicht unerheblichen Anteil hat, ist, dass man nicht nur konfrontativ gegeneinander in der Stadt diese Fragen lösen will. Sondern in sogenannten Werkstattverfahren, in denen versucht wird, die verschiedenen Sichtweisen und Blickwinkel der vielfältigen Stadtgesellschaft und alle Belange an einen Tisch zu holen. Auch in guter Tradition der runden Tische vor rund 30 Jahren.
Im Naturschutzgebiet Sacrower See – Königswald wird seit Jahrzehnten der See und seine Uferzone durch Tausende Badende erheblich gestört und zum großen Teil zerstört, ohne dass die Stadt etwas gegen diese Entwicklung bisher getan hätte. Gibt es im rechtlich fixierten Naturschutzgesetz Ihrer Meinung einen Interpretationsspielraum, der die Passivität der Stadtverwaltung rechtfertigt?
Städte sind für ihre Menschen da – und natürlich will man im Sommer auch gerne baden. Der Schutz der Natur ist dabei nicht nur Selbstzweck, sondern dient uns allen. Dort, wo zu unachtsam mit der Uferzone und Schutzgebieten umgegangen wird, muss das Ordnungsamt regelmäßig nach dem Rechten schauen. Bei gutem Wetter und großem Andrang müssen dann die Menschen dafür sensibilisiert werden, dass sie Rücksicht auf die Natur nehmen.
Planen Sie, die Meinungen der Bürgerinnen und Bürger stärker mit in Ihre Entscheidungen einzubeziehen? Wie informieren Sie sich über das Stimmungsbild an der Basis?
Ja, ich werbe für eine andere Art des Regierens auch für die nächste Bundesregierung. Die Beteiligungsprozesse und die Werkstattgespräche die wir hier in Potsdam machen, sind für mich dabei eine Art Vorbild. Gestalten heißt nicht, dass einer auf den Tisch haut, sondern Menschen, die wirklich verändern wollen, bringen unterschiedliche Sichtweisen zusammen. Sei es im Kabinett oder in Bürger*innenräten, die in großen gesellschaftlichen Fragen beraten und neue Vorschläge machen. Irland hat damit gute Erfahrungen gemacht: 99 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger hatten die Aufgabe, in einer der strittigsten Fragen in der irischen Gesellschaft – der Abtreibungsfrage – nach einer Lösung zu suchen. Das hat funktioniert – am Ende konnten alte Gräben überwunden werden. So etwas kann ich mir auch bei uns im Land vorstellen, beispielsweise bei der Frage der Generationengerechtigkeit.
Was wird unter einer Grünen-Bundeskanzlerin anders für Deutschland?
Dass die Lebenswirklichkeit der Menschen viel stärker in den Mittelpunkt von politischen Entscheidungsprozessen rückt. Jemand, der etwa auf dem Dorf in der Nähe Potsdams lebt, hat andere Bedürfnisse als Familien in der Potsdamer Innenstadt: Den einen fehlt die Arztpraxis in der Nähe, die anderen finden keinen bezahlbaren Wohnraum. Und wir haben ja in dieser Pandemie gesehen, dass eine Regelung sehr unterschiedliche Auswirkungen hat. Ob ich jetzt in einer Drei-Zimmerwohnung ohne Balkon und ohne eigenen Garten nicht mit meinen Kindern rausgehen kann und alle Spielplätze geschlossen sind oder ich über einen riesengroßen Garten mit Sandkasten und Schaukel verfüge. Familien und Kinder gehören ins Zentrum unserer Politik.
Und mir ist noch etwas sehr wichtig: Die letzten Jahre ist die Bundesregierung zu oft nur auf Sicht gefahren. Wir müssen aber mit Weitsicht handeln, vom Ziel her denken und dann die Dinge wirklich verändern. Angefangen bei der Klimakrise. Aber auch mit Blick auf die Gesundheitsversorgung, weil wir auch in Potsdam erlebt haben, dass gerade Pflegekräfte sowie viele Ärztinnen und Ärzte die vielen Sparmaßnahmen auf ihrem Rücken ausbaden mussten.
Frau Baerbock, Sie sind Karrierefrau und zweifache Mutter. Nun erwägen Sie sogar die Kanzlerkandidatur. Was können Sie anderen ambitionierten Müttern mit auf den Weg geben, die auch im Beruf erfolgreich sein wollen, und wie möchten Sie Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern?
An sich selbst zu glauben und sich nicht absprechen zu lassen, dass Frauen und auch Mütter in diesem Land alles sein können: Oberärztin, Kanzlerkandidatin oder auch für einige Zeit zuhause zu bleiben. Und dass die Zeiten vorbei sind, wo man sagt „Mütter können das nicht“. Dafür gilt es noch einige Strukturen aufzubrechen, weil das noch keine Selbstverständlichkeit ist.
Das Allerwichtigste dafür ist eine gute Ausstattung von Kita- und Hortplätzen. Ich weiß selbst wie schwer es in einer wachsenden Stadt ist, einen Kitaplatz zu finden. Da sind es oftmals die Mütter, die zuhause bleiben und dann nur schwer wieder zurück in den Beruf kommen. Das will ich ändern.
Sie treten in Potsdam direkt gegen Olaf Scholz von der SPD an, der sich auch um das Amt des Bundeskanzlers bewirbt. Ist das Ergebnis in Potsdam eine Vorentscheidung?
Es wird in jedem Fall sehr spannend hier bei uns. Der Wahlkreis steht spiegelbildlich dafür, was in Deutschland an Veränderung möglich ist. Die Bundestagswahl kann einen Epochenwechsel einleiten. Ich bin überzeugt: Nur Veränderung schafft Halt. Wir müssen Grundlegendes ändern um zu bewahren, was uns lieb und teuer ist. Andere setzen eher auf ein „weiter so“.
Das Schöne in einer Demokratie ist ja aber, dass Wählerinnen und Wähler diese Entscheidung treffen. Ich glaube, es wird sehr knapp werden, und deswegen wird es auf jede Stimme ankommen.
Was macht Annalena Baerbock in ihrer Freizeit, wenn es nicht um die Ausübung ihres Amtes geht?
Mit meinen Kindern an die frische Luft gehen. Wenn die freie Zeit auf einen Samstagmorgen fällt, dann gehe ich gerne – zu Nicht-Coronazeiten – mit meinen Kindern auf den Markt, esse eine Waffel und dann gehen wir im Anschluss zur Mausefalle, unser Lieblings-Spielplatz direkt in der Innenstadt.
Die Popularität der diesjährigen Kandidatinnen und Kandidaten ist höher denn je. Warum sind Sie die beste Wahl?
Weil ich einen Plan dafür habe, wie wir unser Land erneuern können. Dieses Herumlavieren, dass wir eigentlich alles so beibehalten, und wenn es gar nicht anders geht, an ein paar Stellschrauben drehen, hat dazu geführt, dass wir in manchen Regionen noch immer Faxe in Gesundheitsämtern hin- und herschicken, dass wir in Krankenhäusern Situationen erleben, in denen auf dem Rücken der Beschäftigten eine Pandemie gelöst wird und das Schulen im 21. Jahrhundert noch nicht digitalisiert sind. Dass der Klimaschutz – obwohl er die größte Herausforderung unserer Zeit ist – nicht mit voller Kraft angegangen wird. Unser Land kann so viel mehr. So wie viele Menschen in dieser Pandemie über sich hinausgewachsen sind muss Politik nun über sich hinauswachsen. Dafür trete ich an.
Das Gespräch führte Steve Schulz