Ahnenforschung – die sehr persönliche Reise in die Vergangenheit
Die Frage nach dem Sinn des (eigenen) Lebens ist uns Menschen innewohnend. Und sie wird begleitet von Entscheidungen, die wir täglich treffen – viele hundert Mal am Tag. Die meisten davon sind weniger weittragend, einige jedoch sind Grundlage für einen Weg, den wir vielleicht mehrere Jahre gehen werden. Vor allem in beruflichen und Beziehungsfragen bestimmen unsere Entscheidungen unseren Lebensverlauf ganz wesentlich. Wenn wir aber mal den Blick nicht in die Zukunft und auch nicht in die Gegenwart, sondern zurück in die Vergangenheit richten, können wir manchmal erkennen, wie sehr Entscheidungen, die wir vor fünf, zehn, 20 oder mehr Jahren getroffen haben, unser heutiges Leben beeinflussen.
Was sehen wir aber, wenn wir unseren Blick noch weiter in die Vergangenheit richten? Soweit, dass weder wir noch unsere Eltern und Großeltern zu sehen sind? Wie sehr haben die Entscheidungen der Menschen unser heutiges Leben geprägt und mitbeeinflusst, die wir nie kennengelernt haben? Was haben unsere Vorfahren, unsere Ahnen, gemacht? Was haben sie erlebt? Welche Entscheidungen haben sie getroffen, und warum haben sie sich damals für einen bestimmten Weg entschieden? Fragen wie diese beantwortet die Ahnenforschung.
Der POTSDAMER sprach mit dem Historiker und Ahnenforscher Ralf Dietrich und nimmt Sie ein Stück mit auf die Reise in die eigene Vergangenheit.
Warum sollte man sich mit seinen Ahnen überhaupt beschäftigen?
Ahnenforschung ist eine faszinierende Zeitreise zu den eigenen Wurzeln, die uns vielfältig fördert und bereichert. Dabei beschränkt sich diese eben nicht nur auf die Beschäftigung mit Verstorbenen. Vielmehr ist Familienforschung sehr lebendig, stärkt innerfamiliäre Verbindungen zu Verwandten oder Freunden der Familie. Denn mit dem Austausch in der Familie beginnt ja das Abenteuer.
Mit dem Wissen um die Lebensumstände und Persönlichkeit der Vorfahren stellt sich eine Verbundenheit mit ihnen ein. Dies kann Zuversicht und Orientierung geben und auch die eigene Verantwortung, die man für seine Nachkommen trägt, bewusster machen. Zudem führt die Beschäftigung mit der Geschichte seiner Familie zu einer wachsenden Verbindung zu den Regionen und Orten, die unsere Vorfahren einst bewohnten sowie zu ihren Berufen. Selbst die von ihnen durchlebten historischen Ereignisse kommen uns näher.
Ich kann versichern, dass jede Familiengeschichte Spannendes zu berichten weiß. Weiter ist es auch für Kinder faszinierend, wie ihre eigene Familiengeschichte mit bekannten historischen Ereignissen verknüpft ist. Das kann sie für Geschichte begeistern, und diese Verknüpfungen werden auch im Geschichtsunterricht in Vorträgen oder Arbeiten zumeist geschätzt.
Wie kann man nun selbst Ahnenforschung betreiben?
Am Anfang steht das Gespräch mit den Eltern, Groß- und Ur-Großeltern oder deren Weggefährten. Dies kann viele interessante Informationen ans Licht bringen, die Ansatz für eine weitere Suche bieten.
Die Zuordnung und Datierung alter Schriften und alten Bildmaterials sind unbedingt zu empfehlen. Die Lebensgeschichten und Anekdoten sollten auch – zumindest stickpunktartig – aufgeschrieben werden, damit das Wissen bewahrt wird und nicht für immer verloren geht. Letzteres kann leider schneller gehen als man denkt.
Das Anlegen von Ordnern mit Personenstammblättern und Dokumenten zu den Vorfahren erleichtert die Übersicht, ebenso wie die Erstellung von Ahnen- und Stammtafeln.
Wichtig ist also nicht nur die Sichtung von Quellen, sondern die Sicherung der Rechercheergebnisse, um diese dann an die kommenden Generationen weitergeben zu können.
Welche Quellen kann man außer den Familienangehörigen und Freunden noch nutzen?
Tiefere Recherchen sind online in den verschiedensten Genealogieportalen möglich sowie in entsprechenden Orts- und Kreisarchiven nach Standesamtsurkunden (ab 1874/75) und in Kirchen- bzw. Pfarrarchiven nach Kirchenbucheinträgen zu Geburten, Heiraten und Todesfällen. Auch Recherchen zu den Wohn- und Wirkungsorten der Vorfahren sind sehr aufschlussreich. Auf alten Ansichtskarten können Familienbetriebe abgebildet und auf historischen Landkarten (z.B. den Ur-Messtischblättern) Flurnamen mit den Namen der Vorfahren verzeichnet sein. Besuche vor Ort sind natürlich auch zu empfehlen. Nicht selten sind noch alte Gräber erhalten oder es finden sich Vorfahren auf den Gedenktafeln der Kriegsteilnehmer. Die Gespräche mit Ortskundigen können außerdem ganz neue Perspektiven eröffnen.
Über ungeklärte Soldatenschicksale in den Weltkriegen kann eventuell der „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.“ Auskunft geben. Der Verein bietet unentgeltlich und unkompliziert eine Gräbersuche (auch online) an. Sobald die militärische Einheit des Vorfahren bekannt ist, liefern insbesondere zum Ersten Weltkrieg Regimentschroniken teilweise sehr detaillierte Schilderungen der Kriegserlebnisse. In der Bibliothek des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) an der Potsdamer Zeppelinstraße können die Regimentschroniken ausgeliehen werden.
Je tiefer in die Geschichte eingetaucht wird, ist es erforderlich, die alten deutschen Schriften lesen zu können und mit damals gängigen Begriffen und Abkürzungen vertraut zu sein. Gerade bei den dringend empfohlenen Recherchen in Orts-, Kreis- und Landesarchiven oder im Bundesarchiv bedarf es dieser Kenntnisse. Denn was das 19. und 18. Jahrhundert betrifft, hinterließen unsere Vorfahren mehr Schriftgut als allgemein vermutet wird. Aus Briefen an die Obrigkeiten, Pachtverträgen, Patenten, Prozessakten usw. lassen sich oft sehr detailliert die Lebensumstände der Vorfahren erschließen. Es finden sich selbst zu Angehörigen der ländlichen Unterschicht optisch schöne, teils besiegelte Schriftstücke oder verzierte, kolorierte Karten von Pachtländereien.
Was macht man mit Informationen über Vorfahren, die weniger rühmlich sind?
Brisant kann der familiäre Kontext während der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg sein. Aufklärung kann hier eine Anfrage an das Bundesarchiv Berlin geben. Allein aus der dort überlieferten NSDAP-Zentralkartei oder den personenbezogenen Unterlagen zu Militärangehörigen (die teilweise auch im Bundesarchiv in Freiburg im Breisgau archiviert sind) können hierzu wertvolle Informationen gewonnen werden. Denjenigen, die befürchten, dass eventuell sehr unliebsame Details über die eigenen Vorfahren zutage gefördert werden, kann ich nur raten, sich dennoch um Aufklärung zu bemühen, um das Geschehene nicht weiter zu verdrängen. Gewissheit ist hier sehr viel besser als Ungewissheit. Mit der Wahrheit kann man umgehen und diese in historischen Zusammenhängen begreifen. Das Wissen um das Wie und Warum der- oder diejenige damals so oder so handelten, kann uns auch für das Heute wappnen. Erkenntnisse über die Lebensumstände etwa der Groß- oder Urgroßeltern können auch Erklärungen oder Verständnis für bestimmte charakterliche Merkmale schaffen, wenn nicht sogar transgenerationale Traumata auflösen.
Letztendlich wird sich bei der Betrachtung über Generationen erweisen, dass unsere Vorfahren zumeist bemüht waren, das Leben ihrer Nachkommen allen Widrigkeiten zum Trotz zu sichern. Wie auch immer, verdanken wir ihnen unsere Existenz.
Auch als Dank an unsere Vorfahren sollten wir ihrer gedenken und sie vor dem Vergessen bewahren. Dies kann zum Beispiel in Form einer Familienchronik geschehen. Ein an der Familiengeschichte und/oder der Bedeutung des Familiennamens orientiertes, nach heraldischen Gesetzen erstelltes Familienwappen kann diese zusätzlich zieren. Auch als Fahne oder Wimpel kann so ein Familienwappen für den Zusammenhalt der Familie stehen, etwa bei großen Verwandtschaftstreffen.
Die Reise in die eigene Vergangenheit kann und sollte jeder ohne großen Aufschub beginnen und somit erkennen, wie sehr die eigenen Vorfahren das Heute bestimmt haben und wie sehr das eigene Verhalten das Leben der kommenden Generationen beeinflussen kann. Ganz im Sinne von Hermann Hesse (1877 – 1962): „… und sollst einst wissen, dass dieses Leben süßer Atem, dass dieser Herzschlag tiefes Eigentum nur Lehen ist, und daß durch euer Blut, Vergangenheit und Ahnenerbe und fernste Zukunft rollt, und daß für jedes Haar auf eurem Haupte.“
sts