Wie der Fotograf Joachim Liebe den Abzug der russischen Armee durch ein Objektiv sah
Teil 7 der Serie „Potsdams russische Wurzeln“

Fotograf Joachim Liebe

Fotograf Joachim Liebe

Zwischen der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 bis zum 31. August 1994 haben mehr als 337.000 Soldaten und Offiziere der sowjetischen Armee und etwa 200.000 ihrer Familienmitglieder Deutschland verlassen. Der Potsdamer Fotograf Joachim Liebe hat den Prozess des Abzugs in über 10.000 Fotografien festgehalten. Aus diesen einmaligen Momentaufnahmen entstand ein großartiger Fotoband unter dem Titel «Vergessene Sieger», der im Jahre 2015 veröffentlicht wurde. Mit dem POTSDAMER sprach Liebe über diese lange und ihn so prägende Arbeit.

Wie sind Sie zu der Idee gekommen, dieses Projekt zu machen? Was hat Sie dazu bewegt?
Wenn es auch viele Zeichen im Vorfeld gab, eine derart radikale Wende war doch unerwartet. Dazu gehörte auch der Abzug der Russen. Die waren mir immer sympathisch. Alleine schon durch die Tatsache, dass sie die größere Kriegslast zu tragen hatten. Und als Fotograf dachte ich mir, dieser Moment kommt nie wieder, den musst Du festhalten – für die Ewigkeit.

Erhielten Sie einfach so eine Erlaubnis, die Soldaten aus der Nähe zu fotografieren?
Erstmals konnte ich im Dezember 1990 bei einem Tag der offenen Tür der Westgruppe der Truppen der sowjetischen Streitkräfte in Krampnitz hinter die bis dahin stets verschlossenen und fast schon geheimnisvollen Kasernenmauern schauen. Damals ahnte ich nicht, wie lange mich der Abzug der damals sowjetischen Truppen beschäftigen würde. Durch meine Arbeit und mein Interesse an den Menschen lernte ich bald einen Offizier kennen, der mir die Möglichkeit bot, den normalen Betrieb einer Kaserne fotografisch zu begleiten. So entstanden einmalige und vor allem authentische Bilder.

Wie wirkten die sowjetischen Soldaten bei Ihrem ersten Kontakt auf Sie?
Ich spürte eine starke Ambivalenz. Auf der einen Seite wurden durch majestätische Paraden militärisches Selbstbewusstsein und Nationalstolz zelebriert, und auf der anderen Seite war den Sowjets ein Gefühl der inneren Verlorenheit deutlich anzumerken. Viele von ihnen waren verunsichert, weil sie nicht wussten, was sie in ihrem Heimatland erwarten würde. Diesem Spannungsverhältnis zwischen äußerer Demonstration und innerer Leere wollte ich näher auf den Grund gehen. Mit meinen Fotos wollte ich die Lebensspuren festhalten, die die Heimkehrer hinterlassen haben und daran erinnern, dass es auch ihre Väter und Großväter waren, die Deutschland 1945 befreiten.

Gelang es Ihnen schnell, Zugang zu den Menschen hinter der Militärfassade zu bekommen?
Je mehr ich fotografierte, desto mehr vertraute man mir. Mit der Zeit konnte ich immer mehr am Leben der Soldaten teilhaben. Ich saß mit ihnen am Lagerfeuer, sah ihnen beim Panzerverladen zu, sogar beim Schweineschlachten durfte ich dabei sein.
Als ich eine sowjetische Journalistin traf, die mit einem Deutschen verheiratet war, begleitete ich sie auf vielen Wegen, auch außerhalb Potsdams. Ich war in Torgau, Jüterbog, Luckenwalde und vielen anderen Städten, wo damals die sowjetischen Truppen disloziert waren. Ich fotografierte sogar die letzte Fähre von Rügen, die die sowjetischen Soldaten in Richtung Heimat brachte.

Viele Ihrer Fotos entstanden während der Zeit des Abzugs, andere erst viele Jahre später. Warum?
Ich habe von Oktober 1990 bis zum 31. August 1994 die sowjetischen Soldaten fotografiert. An diesem Tag fuhr der letzte Zug von Lichtenberg mit der Garnison aus Berlin ab. Später interessierte mich, was aus den vielen Liegenschaften wurde, die über drei Jahrzehnte für viele Soldaten Heimat gewesen waren. Verlassen und zum großen Teil der Natur überlassen, wirkten sie nach fast zwanzig Jahren wie aus einer anderen Welt. Wenn die früheren Kasernengelände saniert und neu bebaut werden, werden auch meine Fotos Bildzeugnisse von historischem Wert sein. Ebenso dokumentieren die später entstandenen Fotos, wie wir mit dieser prägenden Zeit und unseren Erfahrungen in dieser umgegangen sind.

Was für einen Eindruck hatten Sie von den abreisenden Soldaten? Wollten sie Deutschland verlassen oder lieber hier bleiben?
Die meisten freuten sich wohl, in Ihr Vaterland zurückzukehren. Viele hatten ja auch ihre Familien da. Aber es gab natürlich auch einige, die sich sehr an das Leben in der DDR gewöhnt hatten und die Sicherheit in ihren eigenen Reihen genossen. Als der Wohlstand nach und nach einzog, erhofften sich einige bis dahin noch hier lebende Soldaten, davon etwas abhaben zu können, denn ihre Zukunft war völlig ungewiss. Sie machten sich große Sorgen. Die meisten von ihnen, sogar Offiziere, wussten nicht, was mit ihnen passiert, wo sie landen würden. Viele mussten nach ihrer Ankunft in dem neuen Russland – die alte Sowjetunion gab es ja nicht mehr – erst einmal in Zeltstädten leben, weil man für sie keine Wohnungen hatte.

Erinnern Sie sich, wie Ihre Freunde und Bekannten auf die Nachricht vom Abzug der sowjetischen Truppen reagiert haben?
Die Mehrheit war vermutlich froh darüber, im Gegensatz zu mir. Aber es gab auch Stimmen, die gesagt haben: „Na, ob das gut ist, wenn die weggehen? Was passiert jetzt mit uns?“ Für uns war ja auch alles neu, alles anders. Es gab eine große Unsicherheit. Die DDR war weg. Wir sollten plötzlich eine Weltanschauung übernehmen, vor der man uns zuvor gewarnt hatte.

Erinnern Sie sich, wie sich die Deutschen von den Soldaten verabschiedeten?
Am Mahnmal in Treptow wurde ein großes Fest gemacht, zu dem auch viele Deutsche kamen und Blumen mitbrachten. Die Tage der offenen Tür, die die Armee veranstaltete, wurden sehr gut angenommen. Ich glaube, das hat geholfen, um einige Barrieren in den Köpfen auf beiden Seiten abzubauen. Wo immer sowjetische Soldaten abfuhren, wurden sie herzlich von vielen Menschen mit Blumen verabschiedet.

Gab es eine besondere Szene, an die Sie sich gerne erinnern?
Es gab so einige. Ein Soldat, zum Beispiel, wollte unbedingt seine Hunde mitnehmen, die man in die freie Natur laufen lassen wollte. Weil er das aber nicht wollte, hat er seine Hunde einfach mit in den Zug genommen, was eigentlich verboten war. Aber wer wollte sie ihm schon wegnehmen?

War es zu spüren, dass die sowjetischen Soldaten nicht mehr da waren, als sie Potsdam verlassen hatten?
Ja, natürlich. Wir kennen alle die Bilder von Kolonnen, die immer durch die Stadt gefahren sind, oder die Posten, die dann auf der Kreuzung standen, um ihre Kolonnen durchfahren zu lassen. Oder dann, wenn sie Ausgang hatten, in einer Gruppe durch die Stadt zogen. Es waren aber nicht nur die sichtbaren Verbindungen, sondern auch die unsichtbaren. Auch wenn man sie nicht sah, wir wussten, dass die Soldaten da waren. Nach deren Abzug blieb eine gewisse Leere zurück, die für viele schwer zu verstehen war.

Das Gespräch führte Femida Selimova