Schulamt Neuruppin kommt bei Schließung einer 1. Klasse in Erklärungsnot
Mit fünf ersten Klassen startete das Nauener Dr. Georg Graf von Arco Schulzentrum in dieses Schuljahr nach den Sommerferien, und Lehrer und Eltern waren glücklich, als die ABC-Schützen nach einer bunten und emotionalen Einschulungsfeier stolz ihre großen Schultüten in den Armen hielten und sich auf den neuen Lebensabschnitt freuten.
Dass die Freude nur von kurzer Dauer sein sollte, ahnte am Einschulungstag niemand.
Nachdem die kleinen Schülerinnen und Schüler ihre Aufregung verloren, sich an Ihre Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer gewöhnt und damit begonnen hatten, erste Freundschaften untereinander zu schließen, entschied das Schulamtes Neuruppin, eine der fünf ersten Klassen am Schulzentrum zu schließen und die Erstklässler auf die anderen ersten Klassen aufzuteilen.
Eine erste Klasse zu schließen, nachdem bereits der Schulalltag in vollem Gange war, das gab es in der Geschichte des Schulamtes wohl noch nie. Das Erstaunen auf Seiten der Schulleitung, der Lehrer und vor allem der Elternschaft war daher groß. Die Verwunderung über die konstruierte Begründung noch größer.
Eltern zeigen Geschlossenheit
Nachdem die Schulleitung des Dr. Georg Graf von Arco Schulzentrums die Hiobsbotschaft der Klassenschließung an die Eltern weitergeleitet hatte, schlossen sich diese zu einer Interessensgemeinschaft zusammen und luden das Schulamt sowie Vertreter der Schule und der Presse zu einer Informationsversammlung ein. Auf dieser sollte dem Schulamt noch einmal die Position der Elternschaft dargelegt und für eine Offenhaltung der fünf ersten Klassen dem Schulamt gegenüber geworben werden. Ebenso sollte das Schulamt die Möglichkeit erhalten, die Gründe der Klassenschließung nachvollziehbar darzulegen.
Zahlenwirrwarr
Als Vertreterin des Schulamtes Neuruppin kam Dorit Köhn zu der von der Elternschaft initiierten Informationsveranstaltung nach Nauen, um die betroffenen Eltern über die Beweggründe der Klassenschließung zu informieren. Auf der Veranstaltung wiederholte sie allerdings nur gebetsmühlenartig, was sie bereits in ihrem im Vorfeld an die Eltern gerichteten Schreiben anführte. In diesem begründete sie die Entscheidung seitens des Schulamtes Neuruppin damit, dass die gewünschte Klassenstärke (der sogenannte Frequenzrichtwert, FRW) von 23 nicht erreicht worden sei und dass die allgemeine Lehrerknappheit die Eröffnung einer fünften 1. Klasse nicht rechtfertige.
Beide Argumente widersprechen allerdings dem Handeln des Schulamtes Neuruppin in den Monaten zuvor. Bereits im Mai dieses Jahres war dem Schulamt Neuruppin nach eigenen Angaben bekannt, dass zu Beginn des neuen Schuljahres an dem Dr. Georg Graf von Arco Schulzentrum mit einem Bedarf von 95 – 97 Schulplätzen für die ersten Klassen zu rechnen ist. Diese Zahl erhielt es vom Schulträger, der Stadt Nauen, der aufgrund des darüber hinaus erwarteten weiteren Zuzugs und Schulplatzbedarfs bereits im November 2022 um die Eröffnung einer fünften 1. Klasse bat. Dieser Bitte ist das Schulamt Neuruppin nach Erhalt der angemeldeten Schülerzahlen gefolgt und wusste somit schon im Juni 2023, dass zum Start des neuen Schuljahres 2023/2024 kein Frequenzrichtwert von 23, sondern einer von 19,2 erreicht wird.
Da das Dr. Georg Graf von Arco Schulzentrum selbst die Lehrersituation an der Grundschule als ausreichend beschrieb (einen Lehrermangel gebe es allerdings an der Oberstufe), ist auch das vom Schulamt Neuruppin angeführte Argument der Lehrerknappheit nicht haltbar.
Bürgermeister bestätigt steigenden Platzbedarf an Nauener Schulen
Der POTSDAMER fragte Bürgermeister Meger, ob er mit einem weiteren Zuzug rechne und somit eine frühzeitige Schaffung mehrerer Klassen mit entsprechenden Aufnahmekapazitäten zu realisieren wären. „Ausgehend von einer Beschulung in der Grundschule von sechs Jahren und dem erwarteten Zuzug, geht die Stadtverwaltung davon aus, dass mehr als 23 Plätze pro Klasse notwendig sein werden, um den Bedarf zu decken … Es wird … davon ausgegangen, dass der Zuzug mittelfristig anhalten wird“, beschreibt Bürgermeister Meger die Prognose des zusätzlichen Schulplatzbedarfs. Ebenso bestätigte Meger, dass „kleinere Klassen grundsätzlich zu begrüßen“ seien. Eine Beschulung müsse aber auch immer „nach pädagogisch-didaktischen Prinzipien“ sichergestellt werden, was wiederum Aufgabe des Staatlichen Schulamtes sei.
Keine pädagogischen Gründe, aber verdrehte Fakten
Da das Schulamts Neuruppin in seinem Schreiben an die Elternschaft keine pädagogischen Gründe für die Klassenschließung nannte, fragte der POTSDAMER noch einmal explizit beim Schulamt nach. Der Leiter des Schulamtes Neuruppin, Dietmar Menzel, nennt jedoch keine pädagogischen Gründe. Stattdessen verdreht er Fakten, um ein verzerrtes Bild der Situation zu zeichnen und dem Schulzentrum die Schuld an der Schließung der fünften 1. Klasse zu geben:
Der Leiter des Schulamtes behauptet: „Das Schulzentrum hat nach Rücknahme der Klassenbildung keinen Lehrkräftebedarf mehr.“ Diese Aussage ist rechnerisch konstruiert. Richtig ist, dass das Schulzentrum an der Grundschule ausreichend Lehrer für die Eröffnung von fünf 1. Klassen zur Verfügung hatte. An der Oberstufe war jedoch ein Lehrermangel wegen einer unbesetzten Stelle zu verzeichnen. Durch die Schließung der fünften 1. Klasse wurde eine Lehrerstelle in der Grundschule frei und mit der unbesetzten Stelle der Oberstufe verrechnet. Somit ergab sich eine ausreichende Lehrermenge am Schulzentrum, im Schulbetrieb fehlt trotzdem ein Lehrer in der Oberstufe.
Ferner behauptet Menzel: „Das Schulamt ist im Vorfeld der Klassenbildung dahingehend informiert worden, dass neben den offiziellen Anmeldungen im Sommer mit einem Zuzug zu rechnen sei, so dass 115 SuS [SuS = Schülerinnen und Schüler, Anm. d. Red.] zu erwarten seien.“ Wahr ist, dass zu keinem Zeitpunkt eine zu erwartende Schülerzahl von 115 an das Schulamt bestätigt wurde. Stattdessen wusste Menzel von der Öffnung von fünf 1. Klassen seit November 2022 und bestätigte diese nach Aussagen seiner Mitarbeiterin Köhn noch im Juni 2023, als man von 95 Schülern ausging, was einem FRW von 19 entspricht.
Dem Verdrehen von Fakten setzt Menzel allerdings noch einen obendrauf: „Die Feststellung, dass stattdessen nur 93 SuS eingeschult wurden, hat das Schulamt bedauerlicherweise erst durch die regulär zu Beginn des Schuljahres erfolgende statistische Erhebung am 30.08.2023 erfahren. Eine vorzeitige Rückmeldung der Schule zum Sachverhalt der tatsächlichen Schülerzahlen erfolgte nicht.“
Statt der erwarteten 95 Schüler wurden 93 eingeschult. Somit belief sich der FRW nicht auf 19, sondern auf 18,6. Die Differenz von 0,4 Schülern pro Klasse nahm Menzel also zum Anlass, eine komplette Schulklasse im laufenden Schulbetrieb zu schließen. Doch damit nicht genug. Schuld daran, dass er die genauen Schülerzahlen erst durch eine „statistische Erhebung am 30.08.2023“ erhalten haben will, soll das Schulzentrum sein.
Aufgrund dieser angeblich so spät erhaltenen Schülerzahlen stand das Schulamt „vor der Entscheidung, entweder sofort die Klassenbildung zurückzunehmen oder nach einem oder zwei Jahren, wenn sich bereits ein fester Klassenverband gebildet hat. Aus pädagogischer und stellenwirtschaftlicher Sicht ist entschieden worden, die Bildung der Klasse sehr rasch zurückzunehmen“, so Menzel.
Warum die Klasse in einem oder zwei Jahren auf jeden Fall hätte geschlossen werden müssen, wollte Menzel auf Nachfrage nicht beantworten. Und dass es keine nachvollziehbaren pädagogischen und stellenwirtschaftlichen Gründe für die Klassenschließung gab, wurde bereits deutlich.
Warum kleine Klassen besser sind
Eine Klasse mit 23 Kindern ist doch gut, könnte man annehmen. Besonders dann, wenn man sich andere Schulen anschaut, auf denen 28 Kinder in einer Klasse keine Seltenheit sind. Ja, könnte man annehmen. Schaut man sich die Klassen aber einmal genauer an, wird deutlich, in welch desolater Lage unser Bildungssystem ist.
Das Schulzentrum in Nauen hat neben einem hohen Migrationsanteil unter den Schülern auch einen überdurchschnittlichen Anteil an Schülern, die einen zusätzlichen Förder- und Betreuungsbedarf haben. Allein in einer der übrigen vier 1. Klassen dieses Schuljahres sind elf Schüler, die einen zusätzlichen DAF-Unterricht (Deutsch als Fremdsprache) benötigen. Somit spricht fast die Hälfte der Klasse kein oder kaum Deutsch. Hinzu kommen Schüler mit Konzentrations-, Lese-Rechtschreib- und Rechenschwächen, sozial-emotionalen Auffälligkeiten und weiterer Besonderheiten. All diesen Bedarfen soll nun ein einzelner Lehrer gerecht werden.
Das Prinzip des „gemeinsamen Lernens“ (Inklusion), also der Idee, dass Kinder mit unterschiedlichen Anforderungen in einer Klasse unterrichtet werden sollen, wurde im Schuljahr 2018/19 eingeführt und seitdem kontinuierlich ausgebaut. Mittlerweile bieten laut Angaben des MBJS (Ministerium für Bildung, Jugend und Sport) mehr als 40 Prozent aller öffentlichen Schulen in Brandenburg diese Schulform an. Die Landesregierung „will die Inklusion und das gemeinsame Lernen schrittweise ausbauen und personell angemessen stärken“, heißt es auf der Website des MBJS. Der Ausbau geht weiter voran, die personelle Stärkung bliebt hingegen aus. Lehrer und pädagogisches Fachpersonal ist in Deutschland überall Mangelware, auch in Brandenburg.
In einem Rundschreiben des MBJS am 25. April 2019 an die Schulen hieß es unter anderem: „… Die gezielte Wahrnehmung des jeweiligen individuellen Unterstützungsbedarfs jeder Schülerin und jedes Schülers und deren optimale Förderung sind Handlungsmaxime …“
Wie diese „optimale Förderung“ aufgrund des fehlenden Fachpersonals auf der einen Seite und des steigenden Förder- und Betreuungsbedarfs auf der anderen Seite geleistet werden soll, verrät das MBJS allerdings nicht.
Es ist daher für jeden leicht zu verstehen, dass viele pädagogische Gründe für die Weiterführung einer fünften 1. Klasse gesprochen hätten. Der Leiter des Schulamtes Neuruppin erkannte diese nicht. Ihm scheint es wichtiger zu sein, Statistiken des Lehrerbedarfs zu schönen, als sich für die individuelle Entwicklung der Kinder stark zu machen. Das bestätigte auch seine Mitarbeiterin, Dorit Köhn, als sie am Abend der Informationsveranstaltung sagte, dass das Schulamt nicht unbedingt die Interessen der Schule und der Schüler zu vertreten habe.
Und wie engagiert richtete sie sich noch gleich in ihrem Schreiben an die Elternschaft?: „…Aber da das Schuljahr erst angefangen hat, bin ich überzeugt, dass mit ihrem Verständnis für die Situation Ihre Kinder das Schuljahr dennoch bewältigen werden. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Ihren Kindern alles Gute!“
Auch dem Schulamt Neuruppin fehlt wohl pädagogisches Fachpersonal.
us