Warum der Digitalisierungsplan des Bildungsministeriums nicht überzeugt
Ein Kommentar von Steve Schulz

Groß war die Erwartung, als die Ministerin für Bildung, Jugend und Sport (MBJS), Britta Ernst, am 22. Februar dieses Jahres ihre Digitalisierungspläne der Öffentlichkeit präsentierte. Gehofft hat man auf die Vorstellung eines Konzeptes, das den Schülern die Möglichkeit gibt, die notwendige pädagogisch-didaktische Betreuung zu erhalten und die sozialen Kontakte wiederzubeleben.

Altes Programm

Statt der Präsentation eines Konzeptes, das Hoffnung auf baldige Normalität macht, wurde im Groben die alte Digitalisierungsstrategie des Jahres 2019 als „Diskussionsgrundlage“ vorgestellt. Wer also Konkretes erwartet hat, wurde enttäuscht. Im Fokus dieses aufgewärmten und immer noch zu diskutierenden Papiers liegen Aufgaben, die die digitale Administration betreffen. Leider sagt das zur Diskussion gestellte Papier des MBJS nichts darüber, wann etwas erreicht werden soll.

Home-Office und Home-Scholling. Wie lange müssen Eltern noch die Doppel- und Dreifachbelastung hinnehmen? Warum immer noch kein praktikables Schulöffnungskonzept vorliegt, ist nicht zu verstehen.

Home-Office und Home-Scholling. Wie lange müssen Eltern noch die Doppel- und Dreifachbelastung hinnehmen? Warum immer noch kein praktikables Schulöffnungskonzept vorliegt, ist nicht zu verstehen.
Foto: Shutterstock

Lernen ohne Freude

Auf Nachfrage des POTSDAMER, worin die Unterschiede der Digitalisierungsstrategien vor und während Corona liegen, antwortete Ministerin Ernst, dass durch Corona die Schulen einen starken Entwicklungsschub in Sachen Digitalisierung erführen und Lehrer wichtige Erfahrungen gemacht hätten, die man nun gewinnbringend nutzen möchte. Gut sei auch, dass sowohl Lehrer als auch Schüler dem Einsatz neuer Techniken positiv gegenüber eingestellt seien. Ein zentraler Punkt sei aber die Stärkung des eigenverantwortlichen Lernens der Schüler.
„Die Schüler, die jetzt eingeschult werden, werden 2070, 2080 noch berufstätig sein“, so Ernst. „Deshalb wird die Kompetenz, sich Neues anzueignen, zentral sein, um sich zurecht zu finden.“ Insofern hätten die Schüler viel gelernt. Man habe aber gesehen, dass manche Dinge nicht so gut im eigenverantwortlichen Lernen funktionieren. „Wir brauchen auch eine kluge Begleitung durch Wissenschaft, denn nicht jeder Unterricht, der Freude macht, ist einer, der kognitiv anregend ist, also, wo Schüler etwas lernen“, meint Ernst.
Hier irrt Ernst allerdings. Zu der Frage, wie Lernen funktioniert, wurden in den letzten Jahrzehnten viele wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt. In keiner Studie ist zu finden, dass Freude den Lernprozess behindert. Ganz im Gegenteil. Die Freude am Lernen bzw. das Wecken von Interesse erhöht die Lernbereitschaft und die Lernergebnisse um ein Vielfaches. Es hapert nur damit, dass viele Lehrer es nicht verstehen, die Schüler für ein Thema zu interessieren.
Aber was sagte Ministerin Ernst während der Pressekonferenz? „Sie wissen ja, dass ich keine Pädagogin bin.“ Dem ist nichts weiter hinzuzufügen.

Welche Pflicht hat Schule?

Dass Kinder mit sechs Jahren in die Schule gehen, hat einen ganz wesentlichen Grund: ihre kognitive Entwicklung. Nie ist das Gehirn lernfähiger als in den Jahren der Kindheit, und in keiner Lebensphase ist es wichtiger, soziale Kompetenzen zu erlernen. Unsere Kinder sich selbst überlassen zu wollen, damit sie sich später „selbst zurechtfinden“, ist aus pädagogischer Perspektive unverantwortlich. Das wäre ja genauso, als würden Eltern ihrer siebenjährigen Tochter 100 Euro in die Hand geben und dann für eine Woche in den Urlaub fahren.

Im Brandenburger Schulgesetzt §4 Abs 3 heißt es: „Die Schule ist zum Schutz der seelischen und körperlichen Unversehrtheit, der geistigen Freiheit und der Entfaltungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler verpflichtet.“ Wie das digital erfolgen soll, hat mir noch keiner verraten.
Verschwendet die Politik weiterhin Zeit mit Diskussionen und tut sie weiter so, als hätten die Schüler nur Ferien, müssen wir uns nicht wundern, wenn wir in einigen Jahren die Rechnung dafür bekommen.

Lehrern fehlt es an Wissen

Laut MBJS sehen Experten strukturellen Handlungsbedarf hinsichtlich eines neuen didaktischen Verständnisses bei Lehrkräften. „Digitales Lernen an Schulen steht und fällt mit der Aktivität des Lehrpersonals und der Schulleitung“, heißt es von Seiten des MBJS. Dabei werde die Digitalisierung allerdings noch zu wenig als systematischer Prozess der Schul- und Unterrichtsentwicklung gesehen, geplant und umgesetzt, stellt das MBJS aktuell fest. Ein Armutszeugnis, wenn man bedenkt, dass die Empfehlung der Kultusministerkonferenz (KMK) schon 2012 den Qualifizierungsanspruch „Medienbildung in der Schule“ formulierte und 2016 mit der Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ ein Handlungskonzept für die zukünftige Entwicklung der Bildung in Deutschland vorgelegt hat, zu der auch die Anforderungen an Schulen gehören.
Unter der Überschrift „Digital gestützte Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen“ weist das Ministerium auf die notwendige Ausbildung der Lehrer hin, die pädagogisch fundierten Potenziale digitaler Medien und Bearbeitungsmöglichkeiten in den Unterricht einzubeziehen. Passiert ist in den letzten Jahren demnach wenig bis gar nichts. Eine Begründung für all diese Versäumnisse erhält man allerdings nicht.
Das MBJS stellt hingegen fest, dass es aus pädagogischer Perspektive wichtig sei, „die Chancen und Herausforderungen des digitalen Lernens in Hinblick auf die kognitive, soziale und motorische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen.“ Bisher werde das umfassende didaktisch-methodische Potenzial von Digitalisierung im Unterricht – besonders mit Blick auf Inklusion, individuelle Förderung oder Ganztagsgestaltung – noch nicht in vollem Umfang genutzt, so das MBJS weiter in seinem „Diskussionspapier“.
Dass es diese Lücke gibt, liegt vermutlich daran, dass das Bildungsministerium zwar Vorhaben formuliert, es aber den Trägern und Schulen überlässt, was und vor allem wie es diese umsetzt, bestätigt eine Sprecherin des MBJS auf Nachfrage des POTSDAMER. Ebenso wenig gebe es eine Erhebung darüber, welches digitale Unterrichtskonzept erfolgreich ist.

Schulen bleiben für die meisten zu

Seit dem 22. Februar bieten fast alle 485 Grundschulen in öffentlicher Trägerschaft den Präsenzunterricht für die Schüler nach den möglichen Modellen A/B wochenweiser Wechsel oder Wechsel zwischen Mo/Mi/Fr und Di/Do an.
„Es freut mich, dass die Öffnung der Grundschulen gut angelaufen ist. Es war für alle Familien eine harte Zeit, als die Schulen geschlossen waren“, sagt Ministerin Ernst und klingt dabei, als wäre alles überstanden. Weder die weiterführenden Schulen noch die Oberstufen (außer den Abschlussjahrgängen) haben auch nur eine Idee davon, wann sie wieder öffnen dürfen. Und obwohl es eine Vielzahl an Lösungsansätzen gibt, sieht sich das MBJS, wie die gesamte Landesregierung, nur dazu imstande, alles abzuschließen. Ein bisschen mehr Mut zur Kreativität hätte man doch vielleicht vom MBJS erwarten können.
„Die Schulen in Brandenburg sind im Wechselmodell in Brandenburg mit maximal 15 Schülerinnen und Schülern gestartet. Die Kinder sitzen in großen Abständen und schützen sich durch medizinische Masken“, so Ministerin Ernst. Warum aber dürfen 15 jüngere Schüler in einem Klassenraum sitzen und 15 ältere Schüler dürfen das nicht? Und warum überhaupt 15? Warum nicht 16, 17 oder 20? Wer hat diese Zahl bestimmt? Welche wissenschaftliche Studie hat diese Zahl festgelegt? Und wie groß ist der Klassenraum, in dem die 15 Schüler unterrichtet werden? Und wie sieht das Bewegungsverhalten der Grundschüler in den Pausen aus? Dürfen die sich dann nur bis auf anderthalb Meter auf dem Schulhof nähern? Bis sie dann wieder nach der Schule alle zusammen im Bus nach Hause fahren?

Keine Zahlen, keine Öffnung, aber Zeit für Diskussionen

Die Ausstattung der Schulen an digitalen Geräten bewege die Bildungsministerin besonders. Dafür würde man nun eine Kommission einrichten, deren Aufgabe es sein soll, die Bedarfe der Schulen regelmäßig zu erheben. Eine weitere Kommission solle parallel dazu den Bedarf der Schulen an Sportstätten überprüfen. Auf die Frage, warum das Bildungsministerium nicht schon längst über diese Informationen verfüge, sagte Ernst, dass die Abfragen bisher nur einmal pro Jahr erfolgt seien.
Seit fast zehn Jahren möchte die Kultusministerkonferenz (KMK) die Digitalisierung an Schulen voranbringen, und das MBJS hat keine Ahnung, wie der Bedarf der Schulen im eigenen Land an digitaler Ausstattung ist? Man muss nicht alles kommentieren.

Umsetzung wird Jahre dauern

Schon jetzt kann man davon ausgehen, dass es mehrere Monate dauern wird, bis valides Zahlenmaterial gesammelt wurde und weitere Monate vergehen, bis diese ausgewertet sind. Dann braucht es sicherlich noch einmal viele Monate bis man Ideen dazu gesammelt hat, wie man mit diesen Zahlen umgeht. Dann werden Monate vergehen, bis man sich auf einige Maßnahmen geeinigt hat, und dann werden weitere Jahre verstreichen, bis es zur Umsetzung dieser Maßnahmen gekommen ist. Bis dahin haben sich die Grundschulkinder von heute wahrscheinlich schon alles selbst beigebracht und Ihre Traumjobs gefunden: YouTuber und Influencer!

Steve Schulz

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